Das Mädchen am Rio Paraíso
der wir gemeinsam für den Bau solcher Einrichtungen sorgen werden. Bislang setzen wir uns mit unseren Nachbarn sonntags zusammen, um gemeinsam ein wenig in der Bibel zu lesen und ein Gebet zu sprechen.
Öfter sieht man sich hier eh nicht, denn die Entfernungen sind groß und die Wege, die durch den Busch verlaufen, nicht immer gut passierbar. Ist das nicht unglaublich, dass der nächste Nachbar so weit weg wohnt, dass man nichts von ihm hören und sehen kann? Wenn ich nur denke, dass Ihr Euch noch immer das Geschrei der schwerhörigen Oma Lutzberger von gegenüber anhören müsst … aber selbst sie schließe ich in meine Gebete mit ein, denn ich bete oft und innig für Euch alle.
Inzwischen müsste der kleine Lorenz ja schon fast in die Schule gehen, und meine liebe Luisa dürfte bald die heilige Kommunion feiern. Ach, ich drücke Euch, Kinder, und wünsche Euch das Allerbeste! Ihr fehlt mir sehr, jeder Einzelne von Euch – schreibt mir doch bitte recht bald zurück und berichtet mir von allem. Lasst nichts aus, jede noch so unbedeutende Nachricht oder Neuigkeit ist uns hier willkommen und hilft uns, die große Distanz zu überbrücken und uns Euch näher zu fühlen.
Ich hoffe, dass auch Ihr uns nicht so bald vergesst und bei dem lieben Gott ein gutes Wort für uns und unser ungeborenes Kind einlegt, so wie wir umgekehrt immer Eurer gedenken und für Euch beten wollen!
In Liebe,
Eure Klara
Ich legte den Gänsekiel beiseite und fing schnell eine Träne auf, bevor sie auf den Brief fiel und all meine schönen Geschichten Lügen strafte. Gewellt war das Papier wegen der hohen Luftfeuchtigkeit ohnehin schon. Aber wir hatten weder die richtigen Lagerbedingungen für unseren einzigen kostbaren Karton mit Briefbögen noch die Möglichkeit, neues Papier zu beschaffen. Wahrscheinlich würde das jedoch niemandem auffallen, denn wer wusste schon, wie ein Brief aus Brasilien, der ein halbes Jahr unterwegs sein mochte, bei seiner Ankunft – wenn er denn jemals ankam – aussah. Und selbst wenn er in ordnungsgemäßem Zustand eintreffen sollte, brauchte ich mir nur vorzustellen, wie meine Leute damit umgingen, um zu wissen, dass er sehr bald speckig und fleckig wäre. Sie würden ihn jedem im Dorf zeigen, würden den Pfarrer und den Lehrer und den Bürgermeister und überhaupt alle damit beeindrucken wollen. An langen Abenden würden sie sich wieder und wieder daran ergötzen, würden sich ausmalen, wie es Hannes und mir und unserem Kind im Urwald erging. Sie würden sich, und das lag durchaus in meiner Absicht, schöne exotische Märchen ausdenken und glauben, dass alles gut war. Wozu sollte ich sie mit unerfreulichen Dingen belästigen, an denen sie nichts ändern konnten und die nur dazu beitragen würden, dass sie sich Sorgen machten? Nein, besser war es, ihnen die Wahrheit vorzuenthalten und ihnen nicht noch mehr Kummer zu bereiten, als sie zweifellos hatten.
Trotz meines Heimwehs und trotz der Schwierigkeiten, mit denen wir auf unserer Scholle zu kämpfen hatten, war ich sehr wohl in der Lage, meine Vergangenheit – und das gegenwärtige Leben meiner Verwandten – nüchtern zu betrachten. Sicher, manches verklärte ich in der Erinnerung. Aber mir war noch sehr deutlich bewusst, wie mein Bauch vor Hunger geschmerzt oder wie ich in dem fadenscheinigen Mantel gefroren hatte – mit diesen und ähnlichen Kümmernissen plagten sich die Leute auch jetzt herum, wenn sich in dem knappen halben Jahr seit unserer Abreise nicht einiges grundlegend verändert haben sollte, was ich bezweifelte.
Jetzt, Mitte März, konnte das Wetter im Hunsrück besonders heimtückisch sein. Es gaukelte einem erste Frühlingslüftchen vor, nur um hinterher umso erbitterter mit dem Frost zuzuschlagen. Das alles wusste ich nur zu gut – dennoch hätte ich es liebend gerne hingenommen und nie wieder darüber geklagt, wenn ich nur der erstickenden Hitze Brasiliens entkommen dürfte. Das Klima war grauenhaft, und es war sehr viel unerbittlicher als ein harter Winter. Der Kälte ließ sich mit Kaminfeuer und warmer Kleidung wenigstens beikommen, während gegen die Hitze gar nichts half. Einzig das Baden im Bach hätte einem eine gewisse Erleichterung verschaffen können, aber nachdem wir unseren ersten
jacaré
gesichtet hatten, so nannte man hier die Krokodile, hatte uns Hellrichs Georg wichtigtuerisch erklärt, hielten wir das für keine so gute Idee mehr.
Dann fiel mir ein, dass bald Fastnacht war und damit die Fastenzeit beginnen
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