Das Mädchen am Rio Paraíso
bekommen.«
Daraufhin haben wir alle durcheinandergeredet, die Christel hat das »Rezept« zum Besten gegeben, ich habe mir laut über die Verwendung des Fells als Kopfkissen oder Teppich Gedanken gemacht, Hannes ließ sich die Bau- und Funktionsweise der Falle erklären, der Franz beschrieb lang und breit, wie das Tier ausgesehen hatte. Wir alle kannten es vom Sehen, es schien hier weitverbreitet zu sein. Und das gab uns allen Auftrieb: zu wissen, dass uns dieses wunderbare, schmackhafte, zarte und offenbar nicht gesundheitsschädliche Fleisch in rauhen Mengen zur Verfügung stand. An solchen unspektakulären Nachrichten erbauten wir uns – nur um anschließend, wenn der Besuch fort war, in noch dumpferes Brüten zu verfallen als vorher.»Klärchen, komm schnell!«, brüllte Hannes von draußen und riss mich aus meinen Grübeleien.
Ich sprang auf, weil ich glaubte, dass irgendetwas Schlimmes passiert war. Dabei stieß ich so heftig gegen die Tischkante, dass das Tintenfass, das ich noch nicht wieder verschlossen hatte, umkippte. Zum Glück ergoss die Tinte sich nicht über den Brief, sondern über den festgestampften Lehmboden. Trotzdem brach ich im selben Moment in Tränen aus. Es war die einzige Tinte gewesen, die wir besessen hatten, und die Beschaffung eines neuen Vorrates konnte noch Monate dauern. Es war ja nicht so, als hinge unser Leben von der Tinte ab – meinen Brief hatte ich schließlich schon geschrieben, und einen weiteren würde ich so bald sicher nicht verfassen. Aber allein das Wissen darum, dass ich jäh der Möglichkeit beraubt worden war, einen anderen Brief zu schreiben, stürzte mich in tiefe Trauer – als sei es nun genau diese eine Möglichkeit des Kontaktes zur Außenwelt gewesen, die mich von der totalen Isolation trennte. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu heulen, ließ jedoch die Tinte Tinte sein und ging nach draußen, um zu sehen, was mit Hannes los war.
»Klärchen! Wo bleibst du denn?«
»Ich komme ja schon!«, rief ich zurück und begann, als ich Hannes auf der Erde knien sah, zu rennen. »Hast du dich verletzt? Was ist passiert, um Gottes willen?«
Er sah auf und strahlte mich übers ganze Gesicht an. »Klärchen, es klappt! Es wächst! Schau nur, wie unsere Saat hier mitten im März aufgeht. Das glaubt uns daheim kein Mensch!« Er erhob sich, packte mich mit beiden Armen um die Taille und wirbelte mich herum. »Klärchen, bald ist es geschafft!« Dann stellte er mich wieder ab, sah mir tief in die Augen und meinte: »Ja, das ist zum Heulen schön, nicht wahr?«
Ich schniefte und nickte. Es war wirklich schön. Wir hatten die ganze Zeit geglaubt, der Hellrich würde sich nur großtun wollen, aber anscheinend wuchs hier wirklich alles in dreifacher Geschwindigkeit wie zu Hause.
»Das musst du unbedingt noch in deinen Brief reinschreiben«, sagte Hannes und rieb sich die Hände, wohl in der Vorfreude darauf, was unsere Leute daheim für Augen machen würden – auch wenn wir nicht dabei wären, wenn sie es lasen, konnten wir uns doch ziemlich genau ihre ungläubigen Gesichter ausmalen.
Ich nickte und lächelte ihm zu. Ja, diese Neuigkeit würde ich allerdings noch hinzufügen.
Dann fiel mit plötzlich wieder die vergossene Tinte ein.
Ich schluchzte laut auf, hielt mir die Hände vors Gesicht und lief zurück zur Hütte.
Ich versuchte, die letzten Tropfen Tinte, die noch nicht im Boden versickert waren, mit einer Messerspitze aufzufangen. Dass sich dabei Dreck mit hineinmischte, war egal. Lieber verschmutzte Tinte als gar keine. Als ich längst schon alles, was noch zu retten gewesen war, aufgesammelt hatte, hockte ich noch immer auf dem Boden und kratzte, schabte, schürfte verzweifelt an dem dunklen Fleck herum, als hinge mein Leben davon ab.
Und irgendwie tat es das auch. Ich sah in dem Fleck, der wundersamerweise die Form eines Herzens angenommen hatte, all das, was ich verloren glaubte: meine Heimat, meinen Halt, meine Hoffnung.
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26
N ach seinem Besuch bei der Zeitung war Raúl nervös und fahrig. Er ritt durch die dichtbevölkerten Straßen der Stadt, ohne auf seinen Weg zu achten. Fast wäre er mit einem Karren zusammengestoßen, auf dem unzählige Hühnerkäfige übereinandergestapelt waren. Der Karren musste abrupt halten, und die Vögel flatterten und gackerten in ihren kleinen Gefängnissen. Mehr passierte zum Glück nicht, außer dass der Vorfall Raúl wieder in die Realität beförderte.
Den Abschiedsbesuch bei Josefina musste er noch hinter
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