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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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langen Stab im Wasser herumstakte. Klara war nicht ganz klar, ob er nach Untiefen Ausschau hielt oder ob er das Boot abstieß.
    Raúl hatte sich anfangs nützlich gemacht, Leinen aufgewickelt oder stoßdämpfende Matten eingeholt. Jetzt, da nichts mehr für ihn zu tun war, setzte er sich zu ihr. »Ein hübscher kleiner Ausflug aufs Land, nicht wahr, Madame?«, sagte er mit spöttisch verzogenen Lippen.
    Klara erwiderte nichts. Sie lächelte, schloss dann die Augen und genoss den Wind, der ihr um die Nase wehte.
    Also gut, dachte Raúl. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, die Flussfahrt, die ruhig zu werden versprach, damit zu verbringen, Kräfte für die Weiterreise zu sammeln. Er ging zur gegenüberliegenden Seite des Bootes, an der eine identische Holzbank entlanglief, und legte sich darauf. Er verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte in den Himmel. Dicke weiße Wolkenberge zogen an ihm vorbei. Ein
quero-quero
flog über ihn hinweg, dicht gefolgt von einem prachtvollen
martim pescador.
Winzige Punkte surrten vor dem Blau des Himmels umher, doch dank der Brise hielten sich die Insekten vom Boot fern. Das Geäst der Uferbäume spendete ab und zu Schatten. Es war eine friedliche Atmosphäre, und schon bald schloss Raúl die Augen und schlief ein.
    Klara betrachtete ihn versonnen. Der Fluss, die Pflanzen des Waldes, die über sie hinwegfliegenden Vögel – all das kannte sie besser, als ihr lieb war. Aber das Gesicht ihres Begleiters war ihr fremd, wie sie jetzt feststellen musste. Alles Finstere war daraus verschwunden. Der Schlaf hatte die Arroganz daraus gelöscht, hatte ihm ein wenig von seiner Härte und Strenge genommen. Es war noch immer ein männliches, markantes Gesicht. Aber es wirkte nun überhaupt nicht mehr abweisend, verschlossen oder düster. Erst jetzt, da er mit einem kleinen seligen Lächeln und vollkommen schutzlos in der Sonne lag, sah sie, wie jung Senhor Raúl noch war. Sie hatte nie nach seinem Alter gefragt, aber er war ihr, dank seiner Autorität und seiner Stellung als Hausherr, immer deutlich älter als sie selber erschienen. Dabei mochte er höchstens dreißig Jahre alt sein. Und erstmals fiel Klara etwas auf, was sie vorher nicht bewusst wahrgenommen hatte, weil sie allzu sehr mit ihrer befremdlichen Situation beschäftigt gewesen war: Senhor Raúl war ein schöner Mann.
    Er hatte ein klassisches Profil, mit hoher Stirn, gerader Nase und kräftigem Kinn. Seine Lippen waren voll, aber nicht wulstig, und die Mundwinkel waren, zumindest jetzt im Schlaf, ein wenig nach oben gebogen, was ihm ein leicht spitzbübisches Aussehen verlieh. Sein halblanges Haar, das vom Fahrtwind zerzaust war, fiel in leichten Wellen nach hinten. Es war dick, glänzend und schwarz. Dasselbe traf auf die Brauen und Wimpern zu. Auf den Wangen zeichnete sich bereits ein dunkler Schatten ab, und Klara verspürte auf einmal das unbändige Verlangen, mit dem Handrücken über die Stoppeln zu streichen und das kratzige Geräusch zu hören.
    In diesem Augenblick schlug Raúl die Augen auf. Klara wandte den Blick sofort ab. Sie fühlte sich ertappt. Aber auch er wirkte verlegen, dass er bei seinem Nickerchen Zuschauer gehabt hatte. Er schwang die Beine von der Bank, setzte sich aufrecht hin und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wie lange habe ich geschlafen? Ist es noch weit?«, fragte er.
    Klara schüttelte den Kopf.
»Uma meia hora, mais ou menos«,
sagte sie, »eine halbe Stunde, mehr oder weniger«, womit sie die Dauer seines Schläfchens meinte. Wie lange sie noch brauchten, bis sie São Leopoldo erreichten, wusste sie nicht.
    »Dein Portugiesisch wird von Tag zu Tag besser.«
    »Obrigada.«
Wie leicht dieses Danke ihr nun über die Lippen kam, dachte Klara. Bei ihrer Ankunft in Brasilien hatten sie Christel für ihren Wagemut und ihre Effekthascherei ausgelacht, weil sie genau dieses Wort gesagt hatte. Christel. Was die wohl gerade machte? Ob sie gut zu Hildchen war? Ob sie dem Kind erklärt hatte, seine Mutter sei tot? Aber nein, dafür war Hilde noch zu klein. Ob das Mädchen den Verlust seiner Mutter überhaupt wahrnahm? Oder war ein Kind von anderthalb Jahren so anpassungsfähig, dass es eine andere Frau als seine Mutter annahm? Die Vorstellung, Hildchen könne Christel inzwischen vielleicht schon mehr kindliche Liebe entgegenbringen als ihr selber, versetzte Klara einen schmerzhaften Stich.
    Eine Reihe lauter Flüche holte sie in die Gegenwart zurück. Der Bootsführer und sein Gehilfe

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