Das Mädchen am Rio Paraíso
würde. Auch das war für unsere Familien daheim eine schwierige Zeit, denn wenn das Gröbste überstanden ist und man den Frühling nahen spürt, steht einem nicht gerade der Sinn nach Zurückhaltung in der Befriedigung körperlicher Gelüste. Sie taten mir leid, meine Leute. Gleichzeitig beneidete ich sie glühend um all die Dinge, die wir hier nicht hatten. Selbst das Aschekreuz, das uns der Pfarrer am Aschermittwoch auf die Stirn gezeichnet hatte, wäre mir hier in der Einsamkeit eine willkommene Abwechslung vom täglichen Einerlei gewesen.
Denn das war das Schlimmste: die Eintönigkeit. Jeder Tag verlief gleich. Es gab keinen Unterschied zwischen Werktagen und Sonntagen. Es gab keine samstäglichen Tanzveranstaltungen, keine Dorffeste, keine kirchlichen Feierlichkeiten oder Prozessionen, auf die man sich hätte freuen können und die die Routine durchbrochen hätten. Jeden Tag dasselbe: bei Sonnenaufgang aufstehen, bis Sonnenuntergang schuften, essen, schlafen. Mittlerweile war uns schon der Liebesakt, den wir anfangs nicht oft genug hatten vollziehen können, verleidet worden. Wenn man nur beisammenliegt, weil nichts anderes an Abwechslung da ist, dann verkommt auch die Liebe zur lästigen Pflicht.
Gott sei Dank war meine Schwangerschaft jetzt bereits so weit fortgeschritten, dass sich mein Bauch sichtbar wölbte – der perfekte Vorwand für mich, Hannes abweisen zu können. Im Übrigen glaubte ich selber, dass der Beischlaf mir in meinem Zustand mehr schadete, als dass er mich erfreute, und über die Auswirkungen auf das arme unschuldige Leben in meinem Leib wollte ich erst gar nicht genauer nachdenken. Ich glaube, Hannes erging es ebenso, denn er wurde zusehends zurückhaltender. Er benahm sich so, als könnte das Kind durch seine Gegenwart bei unseren unkeuschen Handlungen einen seelischen Schaden davontragen, was ich zwar für unwahrscheinlich hielt, aber nicht vollkommen ausschließen wollte, insbesondere da Christel mir diesbezüglich einige sehr unschöne Geschichten erzählt hatte.
Unsere sonntäglichen Gebete bei den Nachbarn, die ich in meinem Brief erwähnt hatte, waren frei erfunden. Wahr war indes, dass wir Christel und Franz gelegentlich trafen. Alle paar Tage machten wir uns auf den Weg zu unseren Nachbarn, um zu sehen, ob sie unserer Hilfe bedurften. Umgekehrt verhielt es sich genauso. Wenn ein großer Baum gefällt werden sollte, war man über jeden zusätzlichen Helfer froh – ein Mann allein konnte das nicht schaffen. Doch auch die Besuche bei oder von Gerhards vermochten meine Laune nicht zu heben.
Wenn das neue Leben bei uns ebenso verheerende Schäden angerichtet hatte wie bei den beiden, dann durfte ich mich glücklich schätzen, dass Hannes meinen Silberspiegel, das Geschenk von Ursula, aus Versehen zerbrochen hatte. Wir sahen kaum je unser Spiegelbild, außer bei dem Blick in eine der vielen Pfützen, die unsere Hütte nach kräftigen Regenfällen zu überschwemmen drohten. Unsere Töpfe waren nicht so blank, als dass man sich darin hätte betrachten können. Trotzdem hoffte ich, dass wir nicht so aussahen wie die Gerhards. Christel und Franz hatten tiefe Ränder um die Augen, dicke Krusten von verheilenden Sonnenbränden auf den Nasen und gingen gebeugt und schwerfällig. Bei uns, das heißt bei Hannes, war mir nie aufgefallen, ob oder wie sein Aussehen sich verändert hatte, denn wenn man einander jeden Tag sah, schaute man sich ja kaum noch richtig an.
Jedenfalls war es so, dass unsere lieben Nachbarn mir vor Augen hielten, wie es um uns alle bestellt war, und das drückte meine Stimmung erheblich. Wir waren arm, einsam und überarbeitet. Wir litten unter entsetzlichem Heimweh und unter noch entsetzlicheren Fieberschüben, die, wie es schien, von den Mücken kamen. Wir waren entkräftet, körperlich wie geistig. Nach nur wenigen Wochen in unserer neuen Heimat hatten wir gelernt, diese noch abgrundtiefer zu hassen, als wir es mit der alten Heimat je getan hatten.
Wir wurden schwermütig, und obwohl diese gegenseitigen Besuche der Schwermut Vorschub leisteten, halfen sie uns doch auch gleichzeitig dabei, zumindest vorübergehend wieder Mut zu schöpfen.
Die kleinste frohe Botschaft wurde von uns zu einem gigantischen Erfolg aufgebauscht.
»In meine Falle ist ein komisches dickes Tier gelaufen, irgendetwas zwischen Biber und Dachs, das haben wir gebraten«, hatte Franz neulich erzählt, »und ob ihr’s glaubt oder nicht: Es war köstlich und ist uns ausgezeichnet
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