Das Mädchen am Rio Paraíso
als die Wahrheit nicht zu kennen. Die Zweifel und die Sorge um ihre Tochter fraßen sie förmlich auf. Und alles war besser als Feigheit. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen, so hässlich diese auch sein mochten.
Es war bereits Mittag, als Raúl die Zügel ergriff und der Einspänner sich in Bewegung setzte. Klara und Teresa hatten sich kurz und tränenreich voneinander verabschiedet und einander versprochen, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Aber Klara wusste, dass sie, wenn sie erst wieder auf ihrer Parzelle wäre und der Alltag sie eingeholt hätte, Porto Alegre und erst recht die Farm von Senhor Raúl in Santa Margarida in ebenso unerreichbarer Ferne lagen wie der Hunsrück.
Sie hatte Teresa zum Abschied ein Taschentuch geschenkt, das sie mit deren Namen sowie filigranen Ornamenten bestickt hatte. Mit diesem Taschentuch winkte Teresa nun, als sich das Gefährt in Bewegung setzte. Und als es außer Sichtweite war, tupfte sie sich damit die Augen ab. »Was glotzt du so, nichtsnutziges Ding!«, fuhr sie Aninha an, die mit offenem Mund dastand und den Anblick der anderen ungläubig in sich aufnahm. Niemand hatte Teresa je weinen gesehen.
Raúl war nicht sehr glücklich darüber, dass er sich aus Anstandsgründen dazu hatte breitschlagen lassen, den Wagen zu nehmen. Viel praktischer wäre es gewesen, er und Klara wären geritten, am besten auf nur einem Pferd. Die Boote auf dem Rio dos Sinos waren nicht groß, und bei der derzeitigen Strömung, die manche der Boote zum Kentern brachte, wären sie ohne das Gespann beweglicher und damit sicherer gewesen. Auch der Abschnitt ihrer Reisestrecke, der sie nach dem Fluss erwartete, war, so vermutete er, auf dem Rücken eines Pferdes schneller zu bewältigen als auf einem Gefährt, so leicht und wendig dieses auch war. Aber gut – wenn alle Stricke rissen, konnten sie sich ja immer noch auf das Pferd setzen und den Wagen einfach zurücklassen. Die Gegend war so dünn besiedelt, dass schon nicht sehr viele empörte Matronen auf die Straße gerannt kommen würden. Außerdem war Klara eine Witwe, das war schließlich etwas ganz anderes, als sich mit einem jungen Mädchen den Platz auf dem Pferderücken zu teilen, dessen Ruf durch derartige Dinge schweren Schaden nehmen konnte. Klaras Ruf indes konnte kaum noch schlechter werden, nach allem, was er bisher erfahren und sich zusammengereimt hatte.
Sie fuhren schweigend. Raúls Aufmerksamkeit war auf den Weg gerichtet. Es war ziemlich viel los auf den Straßen, denn es war Markttag, und Raúl hatte keine Lust auf einen neuerlichen Zusammenstoß mit einem Geflügelhändler. Klara hingegen konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Stelle an ihrem Oberschenkel, wo sie in regelmäßigen Abständen Raúls Bein berührte, immer dann nämlich, wenn sie über eine Unebenheit in der Straße rumpelten oder wenn es um eine Kurve ging. Sie hatte versucht, weiter von ihm abzurücken, aber es war einfach nicht mehr Platz da. Menschen, die breiter gebaut waren als sie beide, würden eng zusammengequetscht werden und von der Hüfte bis zu den Knien Körperkontakt haben. Aber auch so war es für ihren Geschmack viel zu eng. Raúls Nähe machte sie befangen.
Sie erreichten den Bootsanleger am Fluss ohne besondere Zwischenfälle und ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Raúl stieg ab, um einen Bootsführer ausfindig zu machen, der sie jetzt sofort flussaufwärts brachte. Er bedeutete Klara, auf dem Wagen zu bleiben und diesen zu bewachen. Sie sah ihn am Anleger gestikulieren. Er schien einen Preis auszuhandeln. Dann waren Raúl und der Bootsführer offenbar handelseinig geworden, denn sie reichten sich die Hände. Raúl kam zum Wagen zurückgelaufen.
»Es kann sofort losgehen. Der Halsabschneider hat mir ein Vermögen dafür berechnet, aber weil keine anderen Passagiere dabei sind – das nächste Auswandererschiff wird erst in ein paar Tagen erwartet –, schien mir der Preis angemessen zu sein.«
Sie schafften Pferd und Gefährt unter einigem Gewackel auf das flache Boot. Als schließlich alles verstaut und festgezurrt war, legten sie ab.
Klara setzte sich auf die Holzbank, die sich seitlich vom Bug bis zum Heck zog. Es war ein herrlicher Tag, klar und sonnig, und der Fahrtwind machte die Hitze erträglich. Sie beobachtete die Männer, wie sie souverän das Boot durch den Fluss steuerten. Nachdem das Segel gehisst war, hatte der Kapitän das Steuer übernommen, während sein dunkelhäutiger Gehilfe mit einem
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