Das Mädchen am Rio Paraíso
sich bringen, bevor er heimreiten und Klara zur Rede stellen konnte. Er würde es kurz machen bei der koketten Senhorita. Nach sinnlichem Geplänkel war ihm nämlich jetzt überhaupt nicht zumute. Doch er hatte Glück: Josefina war nicht zu Hause. Er hinterließ bei dem Hausdiener der Familie eine kurze Notiz, in der er eine dringende geschäftliche Angelegenheit anführte, die ihn zur Abreise zwänge. Er brachte sein Bedauern zum Ausdruck, sich nicht persönlich verabschieden zu können, und bestellte ihr, Josefina, sowie den sehr verehrten Eltern seine allerergebensten Grüße.
In langsamem Trott machte er sich auf den Heimweg. Was der Redakteur Alves da Costa ihm berichtet hatte, bestärkte ihn in seinen bösesten Befürchtungen. Hatte er am Morgen noch an Klaras Unschuld geglaubt, so deuteten jetzt immer mehr Indizien auf ihre Schuld. Der Mann hatte nur ein Bein gehabt, Jesus Christus! Und sie selber war als verwirrt beschrieben worden. Wenn das keine Konstellation von unglücklichen Umständen war, die jemanden zu einem Mord oder zumindest zu einem Totschlag bewegen konnte! Raúl konnte sich in etwa ausmalen, wie es auf der Parzelle der Wagners zugegangen war. Der Mann, verkrüppelt und verbittert, war dem Trunk anheimgefallen. Die Arbeit war an der Frau, also an Klara, hängengeblieben. Raúl kannte in San-ta Margarida jede Menge ähnlich gelagerter Fälle. Wenn die Frauen erst zu Haupternährern der Familie geworden waren, wurden die Männer noch unausstehlicher. Die meisten verprügelten ihre Frauen.
Der Gedanke, dass dieser ihm unbekannte Hannes Wagner seine Frau geschlagen hatte, trieb Raúl die Zornesröte ins Gesicht. Fast war er froh über den Tod des armen Teufels. Aber halt – noch wusste er ja nicht, ob es sich so zugetragen hatte. Immerhin war da ja noch die Aussage, Klara sei »verwirrt« gewesen. Das wiederum, dachte Raúl, konnte alles Mögliche bedeuten. Die Einsamkeit, die Furcht, die seelische Vernachlässigung – all das hatte Klara vielleicht so sehr zugesetzt, dass ihre Freunde und Nachbarn die Zeichen als »Verwirrtheit« gedeutet hatten. Ebenso denkbar war es, dass Klara tatsächlich nicht ganz bei Verstand war, dass sie immer schon einen wie auch immer gearteten geistigen Defekt gehabt hatte. Womöglich war der arme Hannes Wagner ganz ohne eigene Schuld und ohne eigenes Dazutun zu ihrem Opfer geworden. Und er selber, Raúl Almeida, wäre vielleicht der Nächste, der daran glauben musste. Ihn schauderte bei der Vorstellung.
Als Raúl zu Hause eintraf, hatte er die wenigen Fakten, die er kannte, so oft hin und her gewälzt, dass er vollends verunsichert war. Klara würde ihm Rede und Antwort stehen müssen – und auf der Reise nach São Leopoldo hätten sie genügend Zeit für eine lange Unterredung.
»Já fez a mala?«
– »Hast du schon gepackt?«, fragte er Klara, kaum dass er das Haus betreten hatte. Zu Höflichkeitsfloskeln war er jetzt nicht gerade aufgelegt.
»Sim, senhor«,
antwortete sie artig. Auf gar keinen Fall wollte Klara riskieren, dass die Abreise sich jetzt noch durch irgendetwas verzögerte, und sei es nur durch eine freche Antwort. »Gepackt« hatte sie – ein kleines Bündel mit dem Notwendigsten für unterwegs. Die Kleider, die sie trug, würde sie behalten, das Wörterbuch ebenfalls, sonst nichts. Sie stand ohnehin schon viel zu tief in der Schuld von Senhor Raúl.
»Sehr gut. In einer halben Stunde fahren wir los.« Damit hechtete er die Treppe hinauf. Sie hörte ihn in seinem Zimmer herumpoltern. Offenbar packte er nun auch. Warum er Teresa das nicht machen ließ, war ihr unbegreiflich. Andererseits hätte die alte Schwarze auch gar keine Zeit dazu gehabt: Sie wirbelte durch die Küche und bereitete Proviant vor, der für die einwöchige Reise einer zehnköpfigen Familie gereicht hätte. Dabei würden sie doch nur einen Tag unterwegs sein.
Klara wurde von einer beinahe überirdischen Ruhe ergriffen. Während um sie herum hektische Aktivität ausgebrochen und jeder sehr geschäftig war – Teresa in der Küche, Raúl auf seinem Zimmer, der Bursche im Stall und Aninha hinten im Hauswirtschaftsraum –, stand Klara gestiefelt und gespornt in der Halle und wartete darauf, dass es losging. Sie war bereit. Ganz gleich, was sie erwartete, sie würde es mit Fassung tragen. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass sie diejenige war, die Hannes auf dem Gewissen hatte, würde sie es so hinnehmen und klaglos ihre Strafe dafür verbüßen. Alles war besser,
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