Das Mädchen Ariela
Nebenstraßen. Es war, als sei ein ganzes Volk zu einem großen, herrlichen Fest aufgebrochen, als führen sie zu Tanz, Wein und Liebe und nicht zu dem, was sie erwartete: Schmerzen, Blut, Tränen und Tod. So fröhlich, so voller Lebenskraft und Lebenswillen war noch kein Volk zu seinen Grenzen gezogen, um einen Wall aus Leibern zu bauen.
Narriman quälte sich über die verstopften Straßen. Die singenden Soldaten, die lustigen Zurufe, diese Fröhlichkeit, die wüstengelb gestrichenen Panzer mit den verhängten Kanonen, diese Heiterkeit des Opferns bedrückte sie und lud sie mit Haß auf. Ihr Lachen wird im Blut ersticken, dachte sie. Wie eine Sintflut werden wir Araber über sie kommen. Und es wird keine Arche mehr geben, die auch nur ein einziges Pärchen von ihnen rettet!
An fast allen Straßenkreuzungen wurde sie kontrolliert, mußte zur Seite fahren und ihre Papiere vorzeigen. Sie hatte einen guten Paß, so echt, wie nur ein Paß sein konnte. Ruth Aaron stand darin, und ihr Bild war vom Paßamt in Tel Aviv gestempelt. Die Militärpolizisten an den Straßenkreuzungen verglichen Bild und Person, lächelten die schöne Narriman an, grüßten und ließen sie weiterfahren in dem stählernen, singenden Strom, der nach Gaza und hinunter zur Sinai-Grenze floß.
Bei Mishmar Hanegev wurde sie aus einer Kolonne von Munitionslastwagen herausgeholt und an den Straßenrand dirigiert. Hier saß in einem Jeep, über den ein Zeltdach gespannt war, ein junger Offizier und musterte Narriman mit kritischen, durchdringenden Augen.
»Sie sind Landwirtschaftslehrerin?« fragte er und blätterte in dem Paß mit dem Davidstern. »Warum fahren Sie nicht mit dem Zug oder dem Omnibus nach Beersheba?«
Narriman sah ihn irritiert an. »Haben Sie noch nicht gesehen, Oberleutnant, daß in Israel Mädchen mit einem Auto fahren?«
»Haben Sie Waffen im Wagen?«
»Nein.«
Der junge Offizier verzog die Lippen. »Warum nicht?«
»Warum sollte ich?« Das war eine unkluge Frage. Narriman fiel ein, daß kein Israeli sich in die Nähe der Grenze begibt, ohne sich zu schützen. »In den Kibbuzim sind genug Waffen.« Sie lächelte den jungen Offizier aus großen dunklen Augen an. »Bis nach Beersheba reise ich doch im Schutz unserer tapferen Armee.«
Es fiel ihr schwer, das zu sagen. Sie hätte eher Lust gehabt, auszuspucken. Hinter ihr rasselten die Panzer über die Straße, drei Wagen voll singender Soldaten folgten. Sie brachen in Jubel aus, als sie das schöne Mädchen am Straßenrand stehen sahen. Lange Beine unter einem wehenden Rock, eine enge Bluse, auf den schwarzen Locken ein breiter, geflochtener Strohhut. Welcher Soldat fährt da stumm vorbei?
Der junge Offizier lächelte. Er gab den Paß zurück und grüßte.
»Gute Fahrt«, sagte er. »Sie werden in Beersheba eine Klasse übernehmen?«
»Ja.« Narriman steckte den Paß in ihre Blusentasche. Der Offizier verfolgte ihre Handbewegung. »Ich lehre Pflanzenkunde.«
»Können wir uns wiedersehen?«
»Das liegt an Ihnen, Oberleutnant.«
»Nach dem Krieg werden wir viel Zeit haben.«
»Wird es Krieg geben?«
»Ich hoffe es.«
»Sie hoffen es?«
»Wenn einem jahrzehntelang der Hals zugedrückt wird, hat man Sehnsucht nach einem tiefen Atemzug. Jetzt ist der Augenblick gekommen.«
»Und wenn Sie sterben, Oberleutnant?«
»Was macht das? Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, wo man wirklich weiß, wofür man stirbt.« Der junge Offizier atmete tief auf. »Wo werden Sie in Beersheba wohnen?«
»In der Schule. Im Schulheim.«
»Ich werde Sie besuchen, Ruth.«
»Das wäre schön, Oberleutnant.«
Er winkte Narriman nach, als sie sich wieder in den Strom der anderen Fahrzeuge einfädelte und weiter nach Beersheba fuhr. Im Rückspiegel sah sie es, aber sie winkte nicht zurück. Ihr Gesicht war verschlossen und mit Staub überkrustet.
Krieg, dachte sie. Sie träumen vom Sieg, die Juden, und wir werden sie wie Ratten ins Meer treiben. Einen kurzen Augenblick sah sie ihren Vater vor sich, zerlumpt, mit blutigen Fußsohlen von der langen Wanderung, ausgedörrt von der Sonne und zitternd vor Durst. Damals war sie neun Jahre alt, und sie saßen auf einem großen Stein an der Straße nach Bethlehem. Tausende Araber waren auf der Flucht vor den Juden … die Mütter trugen die Kinder auf den Schultern, die Männer zogen Esel und Kamele und Schafe hinter sich her, die größeren Kinder schleppten Säcke mit Wäsche und Töpfe mit dem letzten Mehl, aus dem man seitlich der Straße auf
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