Das Mädchen Ariela
brannte. Aber dann riß sie sich von diesem schändlichen Anblick los, nahm Gewehr und Tasche und verließ unbeachtet das Hotel Hias.
Die Kälte der Wüstennacht war ihr noch nie so durchdringend vorgekommen wie heute. Sie setzte sich in den Wagen, legte eine Decke über ihre Schultern und fuhr hinaus in den Negev.
Aber sie kam nicht weit. In der Nähe des Wadi Habesor, beim Bir Paqua, einem der elenden Wüstenbrunnen, wurde sie angehalten. Eine kleine Zeltstadt war zwischen Geröll und Steinen aufgebaut. Die Fahnen Israels und des Roten Kreuzes wehten auf dem Platz, um den sich die Zelte scharten.
»Aha! Da sind Sie endlich!« rief ein Militärarzt, als der Posten Narriman in eines der Langzelte führte. Drei Operationstische standen in diesem Zelt, von einem Leichtmetallgestänge baumelten starke Lampen herab. Sanitäter und Krankenschwestern waren dabei, die Klapptragen aufzustellen und Kisten mit Binden und Medikamenten auszupacken. »Sie sind doch die Operationsschwester, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Narriman. »Ich bin es.«
»Kümmern Sie sich um die Instrumente.« Der Militärarzt drehte das Transistorradio lauter, das auf einer Kiste stand. So war es jetzt überall, von Metulla im Norden an der libanesischen Grenze bis tief im Süden in Eilat am Golf von Akaba: 2,5 Millionen Menschen saßen vor den Lautsprechern und warteten … und warteten … und hofften und beteten und glaubten … und lauschten auf die Stimme im Radio, auf die Musik, auf die Pausen, nach deren Stille es sich entschied: Musik oder Krieg. Noch eine Nacht des Friedens oder eine Nacht des Aufbruchs.
»Hören Sie!« Der Arzt deutete auf sein Transistorgerät. Eine Stimme sprach aus New York. Der Weltsicherheitsrat tagte. Dann ein Bericht aus Eilat. Von der ägyptischen Festung Scharm el Scheich waren die Minenboote Nassers ausgelaufen und versperrten die Straße von Tiran mit Minen. »Sie schneiden uns den Nerv durch«, sagte der Arzt. »Sie machen uns fertig!«
Ein Gefühl stiller Freude durchrann Narriman. Sie dachte wieder an ihre Mutter im Grab an der Straße, an den Vater, der mit blutigen Füßen weinend verendete, und lächelte glücklich. Der israelische Arzt sah sie kurz an.
»Sie freuen sich auf den Sieg?«
Narriman nickte. »Ja, ich freue mich auf den Sieg!«
Dann ging sie an eine Kiste und packte Operationsinstrumente aus.
Um sieben Uhr früh donnerten und rauschten die Flugzeuge über das Wüstenlazarett, weit in der Ferne grollte es wie ein riesiges Gewitter. Der Wind, der von Revivim, dem Musterkibbuz im Negev, herüberkam, brachte das Geheul von Sirenen mit.
Die Ärzte, die Schwestern und Sanitäter standen um das Radio. Eine ruhige Stimme sprach zu ihnen.
»Im Süden des Landes haben ägyptische Truppen im Morgengrauen unsere Grenzen überschritten. An die Truppen Israels ist daraufhin der Befehl zum Gegenangriff gegeben worden.«
»Der Krieg!« sagte der Stabsarzt laut. »Leute, nun ist er da!«
Eine andere Stimme, klar und nüchtern, klang aus dem Radio. Durch die Männer ging es wie ein Schlag. Sie standen straffer, in ihre Augen kam tiefer Ernst.
Moshe Dayan sprach.
»Jungens, das ist euer Tag! Verteidigt eure überfallene Heimat!«
Und wieder eine neue Stimme. Der oberste Militär-Rabbiner Israels, der Fallschirmjäger-General Schlomo Goren:
»Gott ist mit euch! Fürchtet den Feind nicht, denn der Gott der Selbstverteidigung ist auf eurer Seite!«
Narriman rannte aus dem großen Operationszelt. Ihr Herz glühte vor Haß. Sie sprang in ihren Wagen, raste auf die Straße und fuhr hinunter zur Grenze, umgeben vom fernen Grollen der Schlacht, dem Heulen der Düsenjäger und dem knirschenden Mahlen der Panzerketten.
Und niemand hielt sie an.
Er wußte nicht mehr, was er tat. Er schrie und rannte, er brüllte den Namen Ariela und fluchte zugleich. Die Wüste staubte unter seinen Stiefeln. Um ihn herum krepierten Granaten, auf der Straße brannte ein Panzer lichterloh, zwei Gestalten krochen um den bro delnden Schrotthaufen und schrien gräßlich.
Fünf Meter vor Arielas kleinem Lastwagen stolperte Dr. Schumann und fiel in den Sand. Er stürzte mit dem Gesicht nach unten, seine Mundhöhle füllte sich mit harten, spitzen Körnern, er mußte husten, daß ihm die Tränen in die Augen schossen. Auf den Knien hockte er dann, blind und nach Luft ringend, und spuckte den Sand aus. Er hörte es durch die Luft herankommen, und der Ton war dunkel wie eine Orgel, deren Blasebalg ein Loch bekommen hat.
»Ariela!«
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