Das Mädchen Ariela
Wand des Balkons. Dann verdeckten dicke, fettige Rauchschwaden die Sicht auf die Altstadt.
»Sollten wir nicht doch in den Luftschutzkeller zu den anderen?« keuchte Freitag. Der Ölqualm klebte in seiner Kehle. Sie waren ins Zimmer zurückgerannt, über Glasscherben, denn die Balkontür war durch die Explosion zersplittert.
»Nein! Hierjeblieben!« Müller XII zeigte auf die Karte. »Ich würde dat so machen – und der Rommel auch! –, daß eine Kompanie Fallschirmjäger im Gegenstoß von hier …«
Als die Sonne schien, war die Lage zu übersehen. Israelische Trup pen hatten die Altstadt erobert. Von Haus zu Haus kämpften sie sich vor, von Gasse zu Gasse, Meter um Meter … vor sich das gro ße Ziel, das Symbol ihrer Freiheit: die Klagemauer. Der Bürger meister von Jerusalem, Teddy Kollek, war mitten unter ihnen. In ei nem amerikanischen Jeep fuhr er herum, rief den Soldaten zu und zeigte nach Osten. Sie alle verstanden ihn. Erobert das Löwentor, erreicht die Tempelmauer, stürmt die Freiheit!
»Es scheint, als würden die Israelis gewinnen!« sagte Harald Freitag. Sie standen wieder auf dem Balkon und blickten hinüber zu den brennenden Häusern und den Einschlägen der Granaten. Willi Müller hob die Schultern und ging ins Zimmer zurück.
»Es läuft nicht immer so, wie's soll!« sagte er böse.
Freitag, der ihm gefolgt war, ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er war müde und doch froh, daß der Krieg an ihnen vorbeiging.
»Warum sind Sie eigentlich nach Israel gefahren?« fragte er.
Müller XII steckte sich eine Zigarette an und grinste.
»Aus Neugier«, sagte er. »Die Israelis sollen die schönsten Weiber der Welt haben, heißt es. Dat wollt ich sehen und jenießen. Immer mitnehmen, solange man noch kann!« Er lachte und klopfte Drummser auf die Schulter, der nichts anderes empfand als seine angeborene Sehnsucht nach Bier. Kaltes, schäumendes, würziges Bier. Ein Märzen! Ein Urbock! Ein Doppelbock!
Ein Land ohne Bier ist ein Scheißland, dachte er mißmutig.
»Die Mädchen, wat?« rief Müller.
Harald Freitag senkte den Kopf.
Warum bin ich Deutscher, dachte er. Warum muß ich gerade heute und hier ein Deutscher sein?
Über die König-Salomon-Straße rollten feuernd die israelischen Panzer.
Auf der Straße nach Beersheba, am Wadi Sekher, trafen sich Vater und Tochter.
Eine Kolonne Panzerfahrzeuge zwang Dr. Schumann, am Straßenrand stehenzubleiben und zu warten. Er stritt sich sogar mit einem Offizier der Feldpolizei, der ihn von der Straße gewiesen hatte.
»Ich muß zum Lazarett!« schrie Dr. Schumann.
»Die Panzer müssen an die Front!« rief der Offizier zurück.
»Ich habe einen Verwundeten im Wagen.«
»Es wird nicht der letzte sein!«
»Es ist Ariela Golan, die Tochter von Oberst Golan.«
»Die Panzer sind wichtiger! Warten Sie!«
So standen sie am Wegrand, und die stählernen Riesen donnerten an ihnen vorbei, bewarfen sie mit Sand und Steinen. Danach sahen sie aus, als hätten sie in einem Mehlfaß gelegen. Ariela hatte sich aufgesetzt, die Spritzen hatten ihr die Schmerzen genommen, sie hatte ein wenig geschlafen und war merkwürdig erfrischt.
Ein Jeep, der sich zwischen den Panzern durchschlängelte, hielt vor ihnen. Ein Offizier, unrasiert und schmutzig, sprang heraus. »Moshe!« rief Ariela. Sie hob den linken Arm. »Ich lebe! Ich lebe!«
Major Rishon lief an Dr. Schumann, den er mit keinem Blick beachtete, vorbei zum Wagen und beugte sich über Ariela.
»Du bist verwundet?« keuchte er. »Schwer? Die Schulter? Ist der Knochen verletzt? Hast du Schmerzen?«
»Es ist nichts, Moshe. Eine Fleischwunde. Sie heilt. Nur eine Narbe wird bleiben.«
»Eine Narbe auf dem schönsten Mädchenkörper. Eine Narbe für die Freiheit Israels!« Major Rishon umfaßte mit beiden Händen Arielas schmalen, bleichen Kopf. »Gib mir einen Kuß«, sagte er heiser vor Erregung. »Nur einen Kuß! Um die Mittagszeit greifen wir in die Panzerschlacht ein. Wir haben schon El Kuntilla erobert. Der Vormarsch geht weiter nach Bir Hasana! Wir siegen!«
Ariela nickte. Rishon beugte sich über sie und küßte sie innig. Dann ließ er ihren Kopf los und atmete schwer.
»Danke, Ariela«, sagte er. »Du bleibst bei dem Deutschen?«
»Ja, Moshe. Gott sei mit dir.«
Major Rishon senkte den Blick und blieb stehen. Es war, als genieße er die letzten Sekunden in ihrer Nähe, als atmete er ihren Duft ein, als sei sie eine Rose, die er nie wieder blühen sehen würde.
»Dein Vater kommt gleich vorbei«,
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