Das Mädchen Ariela
aus. Willi Müller beugte sich darüber und klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers auf den Punkt, wo Jerusalem eingezeichnet war.
»Die Lage ist doch klar«, sagte er mit fester Stimme. »Rundherum lauter Araber. Eine Kesselschlacht im großen. Im Rücken dat Meer. Mensch, wenn wir so 'n Dusel jehabt hätten beim Aufmarsch! Kommen Sie mal her.«
Er winkte Freitag herbei und machte ihm an der Karte Platz. Drummser trank ein großes Glas Wasser. Ein Bayer, der Wasser trinkt, muß schon verzweifelt sein. »Sie haben keine Ahnung vom Krieg, wat?«
»Nein«, sagte Freitag betreten. »Als der Krieg zu Ende ging, war ich ein Jahr alt.«
»Haha! Und in der Schule haben Sie auch nicht gelernt, wat Taktik ist!«
»Wir haben gelernt, daß Krieg Völkermord ist.«
»Quatsch!« Johann Drummser schaltete sich ein. Er beugte sich über den Tisch. Sein runder Kopf glänzte. »Ich war Unteroffizier, mein Junge. Mit Nahkampfspange.«
»Und ich Feldwebel. Müller XII! Wir hatten neunzehn Müllers in der Kompanie.« Willi Müller lachte dröhnend. »Nun hören Sie mal zu, wat alte erfahrene Landser Ihnen sagen: Wenn jetzt der Rommel hier wäre, liefe die janze Sache so. Angriff von hier …« Müllers Hand beschrieb weite Kreise auf der großen Karte. Die Augen Freitags verfolgten seine Bewegungen irritiert und fast scheu. »Und von hier. Zangenbewegung nennt man dat, Junge. Und dann ein Keil von hier! Bei Jaffa vereinigen sich die Keile und teilen dat Land in zwei Teile. Und dann alles jeschwenkt und drauf! In vierzehn Tagen ist die Chose vergessen.«
»Und die Wüste?« fragte Freitag, während er die Karte betrachtete. »Sie haben den Negev vergessen, Herr Müller.«
»In der Wüste leben Flöhe, Heidemarie …« Müller XII war in Stimmung. Er wischte großzügig über die Karte. »Die Wüste ist uninteressant. Die räumen wir, wenn dat andere im Eimer ist. Hält nur auf, durch 'n Sand zu sausen! Jaffa, Haifa, Jerusalem … da wird der Krieg jewonnen! Denken Sie an Rommel … Panzerkeile vor! Knackt die Riegel! Herrjott, Drummser, war dat eine Zeit!«
Sie hockten vor der Karte und ließen Panzerdivisionen hin und her rollen. Ein Boy klopfte an die Tür und rief: »Bitte in den Luftschutzkeller!«
»Du kannst mi!« sagte Drummser gemütlich und legte seine dicke Hand auf die Karte. »Wenn i wos zum Sagen hätt … i würd an der Israeli Stelle zum Suez gehen!«
Müller XII starrte Drummser entgeistert an. Erst dann schien er zu begreifen, was dieser gesagt hatte, als Freitag bestätigte:
»Wenn sie den Suez erreichen, haben sie gewonnen.«
»Ja, seid ihr denn alle verrückt?« sagte Müller XII tief atmend. »Ihr haltet mit den Juden?«
»Sie kämpfen um ihr Lebensrecht!«
»Und wir?« brüllte Müller. Er sprang auf und hieb auf den Tisch. »Worum haben wir gekämpft? Awwer jetzt sind wir an allem schuld! Wenn isch dat höre: Lebensrecht! Wat haben sie in Nürnberg mit uns jemacht? War dat Lebensrecht?«
Betretene Stille herrschte plötzlich in dem großen Zimmer. Von der Waffenstillstandslinie krachte und donnerte es. Flugzeuge zogen nicht mehr über die Stadt, dafür schoß die Flak im Erdbeschuß und zertrümmerte die Befestigungen der Jordanier. Panzer rumpelten durch die Straßen, Sanitätswagen mit Blaulicht rasten heulend zu den Hospitälern. Drummser winkte. Müller machte das Licht aus. Sie stießen die Tür zum Balkon auf und traten hinaus. Am Mandelbaumtor, in der Altstadt und nördlich von Mea Shearim brannten Häuser. Am Damaskustor, in Richtung der Klagemauer, flammten Einschläge auf. Es wurde heftig und ununterbrochen geschossen.
»Dat is doch kein Krieg!« sagte Müller enttäuscht. »Ein deutscher Feuerüberfall … und Jerusalem is platt wie 'ne Wanze. Tak-tak-tak-tak … is dat Maschinenjewehrfeuer? Herr Drummser, unsere MG 42, wat? Rrr … Dat jing direkt ins Jemüt!«
»Darum sind wir auch überall so beliebt«, sagte Harald Freitag bedrückt. Ihm lastete der Krieg auf der Seele, als sei er einer der Mitschuldigen. Er hatte das Heilige Land mit wachen Augen gesehen. Er hatte erkannt, wie ein Volk um sein nacktes Leben bangte.
Willi Müller sah Harald Freitag böse an. »Verschonen Sie uns mit Ihrer Kindermoral, bitte!« sagte er laut. Er zuckte zusammen. In der Hebron-Straße stieg ein Feuerpilz hoch. Eine jordanische Granate hatte einen Benzinwagen getroffen. Mit ohrenbetäubendem Krach explodierte er. Der Luftdruck der Explosion schleuderte Müller, Drummser und Freitag gegen die
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