Das Mädchen Ariela
Jahrtausende ihres Volkes erwacht … sie wußte jetzt nichts anderes mehr, als daß sie Peter Schumann gehörte, so wie ihm seine rechte Hand gehörte, sein linkes Auge, der Schlag seines Herzens. Sie war ganz sein.
»Wie geht es dir?« fragte Ariela und streichelte Schumanns Hände.
»Ich hatte Angst um dich. Aber nun ist alles gut.«
»Ich liebe dich …«
»Warum hast du dich überlisten lassen?«
»Ich wäre auch gekommen, wenn sie mich nicht überlistet hätte. Ich wäre mitgegangen, wenn sie bloß gesagt hätte: Er ist in Amman! Ich wäre mitgegangen, wenn sie gesagt hätte: Er ist in Indien! In Australien! In Amerika! In Rußland! Auf dem Mars! Es gibt keine Grenzen, wenn ich nur bei dir bin …«
Sie waren nicht anders als alle Verliebten, die den Blick für die Wirklichkeit verlieren. Sie knieten vor der trennenden Mauer, und Schumann hatte einen Durchbruch entdeckt, durch den er beide Arme strecken konnte. So lagen sie jetzt voreinander auf den Knien, und Ariela drückte die Stirn gegen die kalte Wand und war dem Weinen nahe.
»Du bist da«, sagte sie leise. »Du bist da. Mehr will ich nicht vom Leben …«
Sie sahen sich den ganzen Tag, denn bis auf die Mahlzeiten ließ Narriman sie allein. Mahmud sahen sie überhaupt nicht mehr. Er war zu seinem Landhaus zurückgefahren und tröstete sich bei seinen zwanzig Frauen über sein Mißgeschick bei Narriman und Ariela.
In der Nacht schliefen sie nicht in ihren Betten, sondern trugen die Decken und Kissen an die Trennwand und legten sich nebeneinander, steckten die Hände durch die Durchbrüche und hielten sich fest. Und so schliefen sie ein, in dem Gefühl, zusammenzusein und sich zu gehören.
Das war der erste Tag. Am zweiten hörte die Seligkeit auf. Der Ernst begann. Der Leiter der jordanischen Forschungszentrale, Hussein ben Suleiman, machte Dr. Schumann seinen Besuch und aß mit ihm ein knusprig gebratenes Hühnchen. Er war ein dicker, jovialer Mann, der in Oxford, Heidelberg und Aachen studiert hatte und sehr gut deutsch sprach. Er war auch jetzt öfter in Deutschland, kannte einige deutsche Minister gut und erzählte dem schweigsamen Dr. Schumann zur Auflockerung zunächst einen neuen Bonner Witz. Dann wurde Suleiman konkret, aber er blieb freundlich dabei.
»Die Lage, lieber Doktor, kennen Sie. Ich meine die politische Lage. Jordanien ist überfallen worden, die Juden haben große Landstriche kassiert, über zweihunderttausend Flüchtlinge vegetieren in Zeltlagern und am Straßenrand diesseits des Jordans. Familien, fleißige Bauern und Handwerker, die man vertrieben hat oder die aus Angst vor Repressalien flüchten mußten. Gute Patrioten alle! Denn das Land, das die Juden im Besitz haben, ist altes arabisches Land!«
»Darüber läßt sich streiten«, sagte Dr. Schumann. Er sah zur Trennwand hin. Ohne daß er es gemerkt hatte, war Ariela entfernt worden. Er hörte weit weg ihre Stimme im Innenhof. Sie saß jetzt vielleicht am Springbrunnen, im Schatten des alten Mandelbaums. »Über wieviel Jahrhunderte hinweg werden Heimatansprüche aufrechterhalten? Dieses Problem ist auch das brennendste in Europa! Darum werden die Großmächte, vor allem Rußland, sehr vorsichtig sein, Rechte zu verteilen. Tun sie es nämlich, dann erkennen sie vor der Welt auch die Ansprüche Deutschlands auf Ostpreußen und Schlesien an, notgedrungen, denn was dem einen recht ist, ist dem anderen billig! Es gibt keine doppelzüngige politische Moral, es sei denn, man macht alles, was Recht ist, lächerlich. Dann allerdings sollten alle Staaten fleißig das tun, was ihnen paßt … und die UNO sollte ein Kindergarten werden.«
»Wollen wir klüger sein als die großen Politiker, die auch nur wissen, daß sie nichts wissen?« Suleiman lächelte breit. »Lieber Dr. Schumann, Sie sind ein hochintelligenter Mensch. Sie werden verstehen, daß es Jordaniens Lebensaufgabe ist, die Juden zu vernichten.«
»Ich verstehe das leider nicht.«
»Weil Sie nicht wollen! Sie hatten in Deutschland einmal einen Mann, den Sie ›Führer‹ nannten und der die Juden rücksichtslos ausrottete. Seitdem bewundern wir das deutsche Volk und lieben es.«
»Das ist ja furchtbar!« rief Dr. Schumann erschrocken. »Wenn es keine anderen Berührungspunkte gibt …«
»Genug, aber hier verschmelzen unsere Herzen!« Suleiman lehnte sich zurück. Seine Lippen glänzten fettig. Es war ein gutes Huhn gewesen. »Ihre Bakterienforschung ist genau das, was wir suchen. In Rußland forscht man auch mit
Weitere Kostenlose Bücher