Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
August streckte sich Grania und trat einen Schritt vom Arbeitstisch zurück. Jede weitere Veränderung an den Skulpturen hätte sie nur schlechter gemacht. Sie waren vollendet. Mit einem Gefühl der Befriedigung wickelte sie sie einzeln für die Fahrt nach Cork ein, wo sie mit Bronze überzogen werden sollten. Dann setzte sie sich erschöpft hin. Das Projekt hatte sie von ihrer merkwürdigen Benommenheit abgelenkt. Es war, als fände sie keinen rechten Bezug zur Welt, als sähe sie sie hinter einem Schleier.
Natürlich freute sie sich, dass Aurora bald ihre Tochter werden würde – die irischen Behörden hatten sich bereits bei Grania gemeldet. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren und andere, schwierigere Aspekte ihres gegenwärtigen Lebens auszublenden, zum Beispiel den, dass sie nicht ewig unter dem Dach ihrer Eltern wohnen wollte. Aber sie wusste auch nicht, ob sie sich in Dunworley House wohlfühlen würde, das man gerade komplett renovierte. Außerdem war Aurora glücklich auf der Farm.
Fürs Erste schien Grania also bleiben zu müssen, wo sie war.
Im September kam Hans wieder nach Irland. Zu dritt erschienen sie vor dem Familiengericht in Cork, um den offiziellen Adoptionsprozess abzuschließen.
»Du hast jetzt eine neue Mutter, Aurora«, stellte Hans fest. »Wie fühlt sich das an?«
»Wunderbar!« Aurora drückte Grania. »Und eine neue Großmutter und einen neuen Großvater und …«, sie kratzte sich an der Nase, »… Shane ist, glaube ich, mein Onkel, oder?«
»Ja«, antwortete Grania lächelnd.
»Meinst du, sie hätten was dagegen, wenn ich sie Oma und Opa und Onkel Shane nenne?« Aurora kicherte.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Und du, Grania?« Plötzlich wurde Aurora verlegen. »Darf ich Mummy zu dir sagen?«
»Gern.«
»Da werde ich fast neidisch«, schmollte Hans. »Ich scheine der Einzige zu sein, der nicht offiziell mit dir verwandt ist, Aurora!«
»Sei nicht albern, Onkel Hans! Du bist mein Patenonkel! Und selbstverständlich darfst du mein Onkel ehrenhalber sein.«
»Danke, Aurora.« Hans zwinkerte Grania zu. »Ich weiß es zu schätzen.«
Hans blieb zum Abendessen, das Kathleen anlässlich der offiziellen Aufnahme Auroras in die Ryan-Familie zubereitet hatte. Danach stand er auf und verkündete, er müsse in sein Hotel in Cork, weil er früh am folgenden Morgen in die Schweiz zurückfliegen werde. Zum Abschied gab er Aurora einen Kuss, dankte Kathleen und John, und Grania begleitete ihn zum Wagen.
»Schön, dass sie so glücklich ist in dieser Familie.«
»Meine Mutter sagt, Aurora hätte neuen Schwung ins Haus gebracht.«
»Und Sie, Grania?«, erkundigte sich Hans. »Wie sehen Ihre Pläne aus?«
»Ich habe keine.« Sie zuckte mit den Achseln.
»Alexander wollte nicht, dass Ihre Entscheidungen über Aurora Ihre Pläne für die Zukunft beeinflussen«, erinnerte Hans sie. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie zufrieden Aurora bei Ihrer Familie ist, und bezweifle, dass sich daran etwas ändern würde, wenn Sie ein anderes Leben anfingen.«
»Danke, Hans, aber ich habe kein ›anderes Leben‹ mehr. Das hier ist mein Leben.«
»Dann müssen Sie sich eines suchen. Vielleicht fahren Sie ja mal wieder nach New York?« Hans legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie sind zu jung und begabt, um sich hier zu vergraben. Nehmen Sie Aurora nicht als Vorwand. Wir gestalten unser Schicksal selbst.«
»Ich weiß«, pflichtete Grania ihm bei.
»Entschuldigung, ich halte Ihnen Vorträge. Aber ich habe den Eindruck, dass die letzten Monate härter für Sie waren, als Sie denken. Sie sitzen in einem Loch, aus dem Sie wieder herausklettern sollten. Dazu müssen Sie Ihren Stolz vergessen. Ich weiß, wie schwer Ihnen das fällt, Grania.« Er küsste sie auf beide Wangen und stieg ein. »Passen Sie auf sich auf und rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen. Ich stehe Ihnen beruflich wie privat bei, so gut ich kann.«
»Danke.« Grania winkte Hans traurig nach. In den vergangenen Monaten hatte sich ein enges Verhältnis zwischen ihnen entwickelt. Grania schätzte die Meinung dieses Mannes, der ihr Innerstes zu kennen schien.
Vielleicht sollte sie tatsächlich nach New York fliegen …
Als vom Atlantik wieder kalte Winde über die Küste von West Cork fegten und die Menschen dort begannen, ihre Kamine zu entzünden, wandte Grania sich einer neuen Serie von Skulpturen zu. Diesmal verwendete sie das Gemälde von Auroras Großmutter Anna als »Sterbender Schwan«, das im
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