Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
glaube, du bist ein bisschen wie sie, Grania.« Kathleen schmunzelte.
»Ich fasse das mal als Kompliment auf, Mam.«
»So war’s gemeint. Und Ähnlichkeit mit ihr hast du auch.« Kathleen öffnete den obersten Umschlag und reichte Grania ein kleines sepiafarbenes Foto. »Das ist sie, deine Uroma.«
Als Grania das Bild betrachtete, musste sie ihr zustimmen. Zwar trug Mary eine Haube und altmodische Kleidung, doch ansonsten sah sie genauso aus wie Grania. »Wann wurde das aufgenommen, Mam?«
»Mary dürfte damals zwischen zwanzig und dreißig gewesen sein, also vermutlich in London.«
»In London? Was hat Mary dort gemacht?«
»Das werden dir die Briefe verraten.«
»Ich soll sie lesen?«
»Ja, wenn du begreifen möchtest, wie die Geschichte mit den Lisles begann. Außerdem hilft es dir vielleicht, die einsamen Abende da oben herumzubringen. Es wäre genau der richtige Ort, sie zu lesen, weil Mary auch dort gewesen ist.«
»Die Briefe erklären alles?«
»Das will ich damit nicht sagen. Sie sind nur der Anfang. Den Rest werde ich dir selber erzählen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Aber jetzt muss ich los.«
»Ich auch.« Grania winkte die Kellnerin herbei. »Geh du ruhig, die Rechnung übernehme ich.«
»Danke, Grania.« Kathleen stand auf und gab ihrer Tochter einen Kuss. »Pass auf dich auf. Bis bald.«
»Eins noch: Könnte ich Aurora mal zur Farm mitbringen? Sie würde dich gern kennenlernen und die Tiere sehen.«
»Meinetwegen.« Kathleen seufzte. »Aber bitte ruf vorher an.«
»Danke, Mam.« Grania lächelte, zahlte die Rechnung, steckte die Umschläge in ihre Handtasche und ging Aurora abholen. Als sie das Gebäude erreichte, sah sie, dass das Mädchen noch bei Miss Elva war. Die Lehrerin, die Grania durchs Fenster entdeckte, sagte etwas zu Aurora, die nickte. Wenig später trat Miss Elva aus dem Studio, um mit Grania zu sprechen.
»Wie macht sie sich?«, erkundigte sich Grania.
»Dieses Kind«, antwortete Miss Elva mit gesenkter Stimme, als die anderen Schülerinnen aus dem Umkleideraum kamen, »ist erstaunlich. Aurora hat noch nie eine Ballettstunde besucht?«
»Das behauptet sie zumindest, und ich wüsste nicht, warum sie mich anlügen sollte.«
»Aurora hat wirklich alles, was man sich für eine Ballerina wünscht. Eine aufrechte Haltung, einen hohen Rist, die idealen Körpermaße … Kaum zu glauben, was ich gerade erlebt habe, Grania.«
»Sie sollte also anfangen?«
»Ja. Und zwar schnell. Sie ist schon vier Jahre hintennach, und wenn ihr Körper weiblichere Formen annimmt, wird es schwieriger für sie zu lernen. Aber das hier ist nicht die richtige Klasse für Aurora. Sie würde nach ein paar Stunden alle überflügeln. Wenn ihre häusliche Situation es erlaubt, wäre ich bereit, ihr Privatstunden zu geben.«
»Ich weiß nicht, ob Aurora das möchte«, sagte Grania.
»Ich habe sie gerade gefragt. Sie ist begeistert. Wenn sie die Grundlagen der Technik verinnerlicht, könnte ich mir vorstellen, dass sie in ein paar Jahren einen Platz an der Royal Ballet School in London ergattert. Dürfte ich mit ihren Eltern sprechen?«
»Auroras Mutter ist tot und ihr Vater im Ausland. Ich passe auf sie auf. Ich würde Aurora gern selbst fragen, ob sie weitermachen will.«
Miss Elva nickte. Aurora gesellte sich zu ihnen.
»Hallo, Liebes. Miss Elva sagt, du hättest Spaß an der Stunde gehabt. Stimmt das?«, erkundigte sich Grania.
»Ja!« Aurora strahlte. »Es hat mir sehr gut gefallen.«
»Gut. Du möchtest also wiederkommen?«
»Natürlich. Miss Elva und ich haben schon darüber gesprochen. Ich darf doch, oder, Grania?«
»Vielleicht sollte ich zuerst deinen Daddy fragen, ob er was dagegen hat.«
»Okay«, stimmte Aurora zögernd zu. »Auf Wiedersehen, Miss Elva, und danke.«
»Bis nächste Woche, Aurora«, rief Miss Elva ihr nach, als Grania und Aurora zum Wagen gingen.
Am Abend erzählte Aurora aufgeregt von der Stunde, zeigte Grania, was sie gelernt hatte, drehte Pirouetten und vollführte Sprünge in der Küche, während Grania das Essen zubereitete.
»Wann fahren wir nach Cork, um die Ballettsachen zu kaufen? Morgen?«
»Ich möchte zuerst deinen Daddy fragen.«
»Wenn du meinst. Er hat nichts dagegen, oder?«
»Bestimmt nicht, aber ich will sicher sein. Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?«
»Ja, bitte«, antwortete Aurora, als Grania sie an der Hand nahm und mit ihr nach oben ging. »Kennst du Dornröschen mit der Prinzessin, nach der ich benannt bin? Die Rolle
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