Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
möchte ich eines Tages tanzen«, sagte sie mit verträumtem Blick.
»Das wirst du, Liebes.«
Sobald Aurora eingeschlafen war, öffnete Grania die Tür zu Alexanders Arbeitszimmer, suchte seine Telefonnummer aus der Liste heraus und wählte sie. Sofort meldete sich die Mailbox.
»Hallo, Alexander, ich bin’s, Grania Ryan. Tut mir leid, dass ich störe. Aurora geht es gut. Ich wollte fragen, ob es Ihnen recht ist, wenn sie Tanzunterricht nimmt. Die Probestunde heute hat ihr gut gefallen. Sie würde gern weitermachen. Könnten Sie mich zurückrufen oder mir eine SMS schicken? Wenn ich in den nächsten zwei oder drei Tagen nichts von Ihnen höre, gehe ich davon aus, dass Sie einverstanden sind. Ich hoffe, bei Ihnen ist alles in Ordnung. Wiederhören.«
Um elf Uhr legte sich Grania mit einem unguten Gefühl ins Bett. Fast rechnete sie damit, auf dem Flur Schritte zu hören, und sosehr sie sich auch bemühte: Sie konnte nicht einschlafen. Um drei Uhr – die Zeit, zu der sie in den vorangegangenen Nächten aufgewacht war – schlich Grania zu Aurora. Das Mädchen schlummerte tief und fest. Grania kehrte in ihr Zimmer zurück und wandte sich den Briefen zu, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. Sie löste das Band um das Bündel, nahm den ersten heraus und begann zu lesen …
Aurora
Das ist der Anfang der Geschichte; einige der Figuren kennen wir jetzt, unter ihnen auch mich. Wie immer stehe ich im Mittelpunkt. Rückblickend erkenne ich, was für ein altkluges Kind ich war.
Meine nächtlichen Ausflüge schildere ich nur, um zu zeigen, wie schmal der Grat zwischen Traum und Realität ist.
Wie gesagt, ich glaube an Magie.
Heute habe ich herausgefunden, dass ich sowohl nach einer Märchenprinzessin als auch nach einem Himmelsphänomen benannt bin. Der Gedanke gefällt mir. Trotzdem bin ich froh, dass mein zweiter Vorname nicht »Borealis« ist.
Nun bewegen wir uns in der Zeit zurück. Die Protagonisten der Gegenwart kennen wir bereits:
Grania, die um ihr verlorenes Kind trauert und dem Mann gegenüber, den sie liebt, gemischte Gefühle hegt. Mittlerweile ist mir klar, wie verletzlich sie war, ein leichtes Opfer für ein Kind, das sich nach einer Mutter sehnt.
Ein attraktiver Vater, der sich bemüht, mit der Situation fertig zu werden.
Kathleen, die um die Vergangenheit weiß und verzweifelt versucht, ihr Kind zu schützen.
Und Matt, hilflos den Frauen ausgeliefert.
Auf den folgenden Seiten begegnen wir zahlreichen Frauen und Männern – eine Besetzung, die einem Märchen alle Ehre machen würde. Damals waren düstere Zeiten, in denen ein Menschenleben wenig galt und es ums nackte Überleben ging.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass wir unsere Lektion gelernt haben.
Aber die meisten Menschen besinnen sich erst auf die Vergangenheit, wenn sie die gleichen Fehler gemacht haben wie ihre Vorfahren. Dann gilt ihre Meinung allerdings oft nichts mehr bei den Jungen. Weshalb die Menschheit immer mit Fehlern behaftet, aber auch fasziniernd bleiben wird.
Kehren wir zu den Klippen über Dunworley Bay zurück, wo meine Geschichte begann …
9
West Cork, Irland, August 1914
»Der Einberufungsbefehl ist gekommen. Morgen brechen wir zu den Wellington Barracks in London auf.«
Mary, die das Blau des Meeres genossen hatte – an jenem heißen Augusttag wirkte die sonst so trübe Dunworley Bay wie eine Postkartenidylle an der französischen Riviera –, blieb stehen und ließ Seans Hand los.
»Was?«, rief sie aus.
»Mary, Schatz, du hast wie ich gewusst, dass das kommen würde. Ich bin Reservist bei den Irish Guards; ich muss den Alliierten im Krieg gegen Deutschland helfen.«
»Wir wollten doch in einem Monat heiraten! Das Haus ist halb fertig! Du kannst nicht einfach gehen!«
Sean schmunzelte über ihr Entsetzen, obwohl die Nachricht auch ihn erschreckt hatte, denn sich eine Situation vorzustellen und sich ihr real gegenüberzusehen waren zwei Paar Stiefel.
»Mary, ich muss für mein Land kämpfen.«
»Sean Ryan!« Mary stemmte die Hände in die Hüften. »Es ist nicht dein Land, für das du kämpfen wirst, sondern das der Briten, die uns seit dreihundert Jahren unterdrücken.«
»Sogar Mr. Redmond hält uns an, für die Briten in den Krieg zu ziehen; du kennst doch den Gesetzentwurf, der uns Iren mehr Unabhängigkeit sichern wird. Sie haben uns einen Gefallen getan; eine Hand wäscht die andere.«
»Einen Gefallen! Indem sie den rechtmäßigen Eigentümern dieses Landes endlich ein Mitspracherecht bei der
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