Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
große Zweifel an einem Gott, der so viel Leid zuließ, obwohl man ihr beigebracht hatte, dass Leid Teil des Weges in den Himmel und zu Gott war. Sie gab sich große Mühe, an Seine Güte zu glauben, doch ein Leben allein für Ihn, fern der Welt, hielt sie nicht für erstrebenswert.
Die Mutter Oberin hatte die Empfehlung schließlich ausgesprochen, weil sie wusste, dass die an allem interessierte Mary sich nicht mit dem Nonnendasein zufriedengeben würde. Über Marys Wunsch, als Dienstmädchen zu arbeiten, war sie jedoch nicht glücklich.
»Du solltest dir eine Stellung als Hauslehrerin suchen«, hatte sie vorgeschlagen. »Du hast eine natürliche Begabung für das Unterrichten von Kindern. Ich könnte mich erkundigen, ob irgendwo eine solche Stelle frei wird, wenn du achtzehn bist.«
Der vierzehnjährigen Mary erschien der Gedanke, vier Jahre zu warten, unerträglich. »Mutter Oberin, es ist mir egal, was ich mache. Bitte, ich würde Mr. Lisle gern kennenlernen, wenn er herkommt«, hatte Mary gebettelt.
Am Ende hatte die Mutter Oberin zugestimmt. »Gut, sprich mit ihm. Dann liegt es in Gottes Hand, ob er dich nimmt oder nicht.«
Von den sechs von der Mutter Oberin empfohlenen Mädchen hatte Sebastian Lisle schließlich sie gewählt.
Mary hatte ihre wenigen Habseligkeiten gepackt und das Kloster ohne Bedauern verlassen.
Wie von der Mutter Oberin vermutet, war Mary bei den Lisles unterfordert, doch nach den Jahren im Kloster scheute sie harte Arbeit nicht. Über das Zimmer im obersten Stock, das sie sich mit einer anderen Bediensteten teilte, konnte sie sich nach dem Klosterschlafsaal mit elf anderen Mädchen nur freuen.
Es dauerte nicht lange, bis dem Herrn des Hauses ihr Fleiß auffiel.
Schon nach wenigen Monaten wurde Mary befördert und durfte Sebastian Lisle und seine Gäste bedienen. Mary lauschte und lernte. Die Lisles stammten aus England und waren zweihundert Jahre zuvor nach Dunworley House gekommen, um die Kontrolle über die heidnischen Iren zu übernehmen, die das Land bewohnten, von dem die Briten glaubten, es gehöre ihnen. Mary gewöhnte sich an ihren Akzent, ihre merkwürdige Förmlichkeit und ihr unerschütterliches Gefühl der Überlegenheit.
Die Arbeit für den achtzehnjährigen Sebastian Lisle und seine Mutter Evelyn, die ihren Mann im Burenkrieg verloren und ihrem Sohn die Führung des Haushalts übertragen hatte, war nicht schwer. Mary erfuhr, dass Evelyn Lisle noch einen älteren Sohn namens Lawrence hatte, der wie sein Vater in den diplomatischen Dienst eingetreten war und sich im Ausland aufhielt. Die Lisles besaßen ein weiteres Domizil in London, ein prächtiges weißes Haus, das Mary von einem Gemälde kannte und sie an eine Hochzeitstorte erinnerte.
Eines Tages, träumte Mary, würde sie Irland verlassen und die Welt sehen. Bis dahin sparte sie das wenige Geld, das sie verdiente, und versteckte es unter ihrer Matratze.
Zwei Jahre später lernte sie Sean Ryan kennen.
Die Haushälterin, die erkältet war und nicht im strömenden Regen zur Farm hinuntergehen wollte, um Eier und Milch zu besorgen, schickte Mary.
Mary klopfte völlig durchnässt an der Tür von Dunworley Farmhouse.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr. Mary drehte sich um und blickte in die freundlichen grünen Augen eines jungen Mannes. Er war ungewöhnlich groß und breitschultrig, ein richtiger Farmer, der zupacken konnte und mit einem durch dick und dünn gehen würde.
Nach dieser ersten Begegnung verbrachte Mary ihre Nachmittage nicht mehr mit Klippenspaziergängen. Sean holte sie mit dem Pferdewagen ab, und sie fuhren nach Rosscarberry, tranken Tee in Clonakilty oder gingen bei schönem Wetter den nahe gelegenen Strand entlang. Sie unterhielten sich über alles Mögliche. Mary besaß Klosterbildung, Sean wusste über die Landwirtschaft Bescheid. Sie tauschten sich über Irland und die Unruhen aus, diskutierten über ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft, auch über ihren Wunsch, Irland zu verlassen und ihr Glück in Amerika zu versuchen. Und manchmal redeten sie überhaupt nicht.
An dem Tag, als Sean Mary mit zu seinen Eltern nahm, zitterten Mary die Knie. Doch seine Mutter Bridget und sein Vater Michael hießen sie herzlich willkommen und wollten alles über Dunworley House erfahren. Dass sie Passagen aus der Bibel und sogar aus dem lateinischen Katechismus zitieren konnte, zauberte ein bewunderndes Lächeln auf ihre wettergegerbten Gesichter.
»Ein anständiges
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