Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
und ist gestorben. Und er ist mit Granatenschock zurückgekommen, der Arme.« Sheila seufzte. »Von den zweien wäre ich, glaube ich, lieber sie. Sie muss wenigstens nicht mehr leiden. Anders als er, der Tag für Tag den Schrecken neu erlebt.«
»Hat er denn ein Zuhause?«
»Anscheinend ist seine Familie sehr wohlhabend. Er wohnt bei seiner Patentante in Kensington. Sie hat ihn bei sich aufgenommen, weil seine Eltern ihn, verwirrt, wie er ist, nicht mehr wollten. Armer Kerl. Was für eine Zukunft bleibt jemandem wie ihm?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte Mary. »Immerhin scheint es ihn zu trösten, wenn er hier sein kann.«
Mary wohnte inzwischen fast dreieinhalb Monate in dem Haus gegenüber von Colet Gardens. Jetzt waren ihre Tage ausgefüllt mit Anproben und dem Nähen von Mänteln, Blusen, Röcken und Kleidern. Sie spielte mit dem Gedanken, eine Assistentin einzustellen und in eine größere Wohnung mit einem Raum nur für die Arbeit zu ziehen. Obwohl ihr weniger Zeit zum Nachdenken blieb, hätte sie doch gern einen Brief an Anna begonnen, um ihr alles zu erklären. Doch sie wusste, dass es das Beste für Anna war, wenn sie schwieg.
Immer wenn Selbstmitleid sie zu übermannen drohte, schaute sie zu dem jungen Mann am Laternenpfahl hinunter.
Da die bestellten Kleidungsstücke vor Weihnachten fertig sein mussten, blieb Mary keine Zeit zu überlegen, wie sie das Fest ohne Anna verbringen würde. Nancy hatte Mary für den ersten Weihnachtsfeiertag nach Cadogan House eingeladen.
»Es wird unser letztes Weihnachten dort sein«, hatte Nancy gesagt. »Im Januar müssen wir alle gehen. Die blöde Kuh hätte uns sicher vor Weihnachten auf die Straße gesetzt, wenn nicht noch genug zu tun gewesen wäre.«
»Ist sie nach Bangkok abgereist?«, fragte Mary.
»Ja, letzten Monat. Da haben wir sofort ein richtig schönes Fest in der Küche gefeiert! Sam und ich haben gute Stellen als Butler und Haushälterin in Belgravia ergattert. Ich weine dieser Küche keine Träne nach. Aber die Kleine tut mir leid. Sie hatte sich so auf Weihnachten daheim gefreut. Wie Menschen so grausam sein können! Und Männer so blind, dass sie auf solche Frauen reinfallen«, fügte Nancy hinzu.
Mary arbeitete die Nacht vor Heiligabend durch, um sicherzustellen, dass ihre Kunden die bestellte Kleidung rechtzeitig erhielten. Um vier Uhr nachmittags, als das letzte Teil abgeholt war, sank sie erschöpft in den Sessel beim Ofen. Leises Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken.
»Hallo?«
»Ich bin’s, Sheila, von nebenan. Du hast Besuch.«
Mary ging zur Tür. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, wer neben Sheila stand.
»Mary!« Anna umarmte Mary so fest, dass sie fast keine Luft mehr bekam.
»Jesus, Maria und Josef! Anna, was machst du denn hier? Wie hast du mich gefunden?«
»Du kennst sie also?«, fragte Sheila lächelnd. »Sie saß ganz verloren vor der Tür.«
»Natürlich kenne ich sie. Das ist meine Anna.« Mary traten Freudentränen in die Augen.
»Dann lasse ich euch mal allein. Scheint, als hätte sich für dich gerade ein Weihnachtswunsch erfüllt, Mary.«
»Ja.«
Mary schloss lächelnd die Tür, schob Anna zu einem Stuhl und drückte sie darauf. »Erzähl mir genau, wie du hergekommen bist. Ich dachte, du bist im Internat.«
»J-Ja, aber … Ich b-bin weggelaufen und gehe nie w-wieder zurück!«
»Anna, nun red keinen Unsinn. Das meinst du nicht so, oder?«
»D-Doch. Und w-wenn du versuchst, mich zu zwingen, laufe ich w-wieder weg. Die Schulleiterin ist schrecklich, die anderen Mädchen sind schrecklich! Ich muss immerzu Lacrosse spielen. Das schadet meinen K-Knien und ist noch schrecklicher als alles andere! Ach, Mary!« Anna vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich hab mich so auf die W-Weihnachtsferien gefreut und darauf, endlich d-dich und die andern in C-Cadogan House zu sehen. Da hat mich die D-Direktorin zu sich ins B-Büro gerufen und mir gesagt, dass ich nicht heim darf. Mary, bitte, ich w-will da nicht mehr hin, b-bitte.«
Anna brach in Tränen aus.
Mary hob sie auf ihren Schoß, und Anna legte den Kopf an ihre Brust.
Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte Mary: »Anna, wir müssen die Schulleiterin informieren, dass es dir gut geht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Polizei eingeschaltet hat.«
»Ich b-bin erst heute Morgen w-weggelaufen«, erklärte Anna. »Mrs. G-Grix, die Schulleiterin, ist über W-Weihnachten bei ihrer Schwester auf J-Jersey. Die Aufseherin soll auf mich
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