Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
mitteilen, dass Anna hier ist.«
»Ja, das sollten wir«, pflichtete Mary ihr bei. »Aber ich habe Anna versprochen, dass sie nie mehr ins Internat zurückmuss. Sie würde wieder weglaufen.«
»Stimmt. Vielleicht sollten wir Mr. Lisle sagen, wie unglücklich Anna in der Schule ist.«
»Und wie schaffen wir es, dass seine Frau nichts davon erfährt?«, erkundigte sich Mary.
»Wir müssen auf unser Glück vertrauen. Könntest du ihm ein Telegramm schicken?«
»Selbst wenn Mrs. Lisle es nicht abfängt, spricht er mit ihr darüber. Und sie sorgt dafür, dass Anna so schnell wie möglich ins Internat zurückkommt.«
»Dann weiß ich auch keine Lösung«, sagte Mrs. Carruthers. »Mr. Lisle hat sich für die arme Anna als schlechter Vormund erwiesen.«
»Deshalb darf ich sie nicht auch noch im Stich lassen.« Mary nippte wieder an ihrem Tee. »Sie sagt, dass die anderen Mädchen sie schikanieren und die Lehrer wegsehen. Alle wissen Bescheid, dass sie Waise ist, und hänseln sie wegen ihrer Stotterei. Wie kann ich ihr helfen?«, fragte Mary verzweifelt.
»Ich mag Anna sehr und möchte nicht, dass sie leidet. Aber heute Abend finden wir keine Lösung mehr. Ich würde vorschlagen, dass wir uns eine Mütze voll Schlaf gönnen, und morgen früh überlegen wir weiter.«
»Ich würde alles tun, um sie vor Unheil zu bewahren«, sagte Mary.
»Das weiß ich, Mary.«
In jener Nacht lief Mary hellwach in ihrem Zimmer hin und her und dachte darüber nach, wie sie Anna helfen könnte.
Am Morgen war Mary bereits um sechs Uhr in der Küche. Mrs. Carruthers gesellte sich gähnend zu ihr. Sie brühten sich einen Tee auf und setzten sich an den Tisch.
»Ich habe nachgedacht …«
»Ich auch, allerdings ohne befriedigendes Ergebnis«, sagte Mrs. Carruthers.
»Ich hätte da möglicherweise eine Idee. Aber zu ihrer Verwirklichung müssten Sie mir ein paar Dinge verraten …«
Vierzig Minuten später waren sie bei der dritten Tasse Tee.
Mrs. Carruthers, deren Handflächen vor Aufregung feucht wurden, seufzte. »Mary, das ist gefährlich. Und bestimmt illegal. Wenn es schiefgeht, könntest du im Gefängnis landen.«
»Ja, Mrs. C., aber etwas anderes fällt mir nicht ein für Anna. Und Sie dürften uns nicht verraten.«
»Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Ich mag das Mädchen genauso gern wie du.«
»Noch eine Frage: Hat Mr. Lisle damals etwas von einer Geburtsurkunde erwähnt?«
»Nein, davon war nie die Rede«, antwortete Mrs. Carruthers.
»Gibt es überhaupt einen Hinweis auf ihre Identität?«
»Mr. Lisle hat seinerzeit einen kleinen Koffer mitgebracht. Angeblich von der Mutter der Kleinen.«
»Wo ist der jetzt?«
»Oben im Speicher, denke ich. Die Mutter ist nie gekommen, um ihn zu holen.« Mrs. Carruthers zuckte mit den Achseln.
»Glauben Sie, ich könnte nachsehen, ob er noch da ist?«, fragte Mary.
»Warum nicht, vielleicht befindet sich darin ja ein Hinweis auf Annas Herkunft. Soll ich Sam bitten, auf den Speicher zu gehen und ihn zu suchen?«
»Wenn Sie so nett wären, Mrs. C. Außerdem bräuchte ich eine Schriftprobe von Elizabeth Lisle und einen Bogen Papier mit dem Briefkopf der Lisles.«
»Es ist dir also ernst, Mary? Na ja, lieber du als ich«, murmelte Mrs. Carruthers. »Ich hole die Kladden, die Mrs. Lisle mir damals abgenommen hat, weil ihr meine Buchhaltung zu schlampig war.«
Später am Tag kehrte Mary mit Anna in ihre Wohnung zurück. Sobald Anna eingeschlafen war, setzte Mary sich an den Schreibtisch. Nun dankte sie Gott dafür, dass sie in der Kindheit viele Stunden damit zugebracht hatte, die Bibel abzuschreiben, um Schrift und Orthografie zu üben. Der Kladde hatte Mary entnommen, dass die Schulgebühren für den nächsten Abrechnungszeitraum vor Mrs. Lisles Aufbruch nach Bangkok bezahlt worden waren.
Als Mary sich sicher genug fühlte, nahm sie den Füllfederhalter von Elizabeth Lisle, den Mrs. Carruthers ihr gegeben hatte, und begann zu schreiben.
Drei Tage später, als Doreen Grix, die Leiterin von Annas Schule, von ihrer Schwester auf Jersey zurückkehrte, entdeckte sie folgenden Brief in ihrer Post:
Cadogan House,
Cadogan Place,
London, SW1
26. Dezember 1928
Sehr geehrte Mrs. Grix,
leider musste ich meine Abreise nach Bangkok wegen eines Todesfalls in der Familie bis nach Weihnachten verschieben, und plötzlich stand mein Schützling Anna vor der Tür. Da sie unter der Trennung von meinem Mann und mir zu leiden scheint, haben wir beschlossen, dass Anna mich nach
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