Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
Bangkok begleitet. Mir ist klar, dass wir dadurch die für den nächsten Abrechnungszeitraum bereits bezahlten Gebühren verlieren. Bitte schicken Sie eventuelle Briefe an meine Londoner Adresse c/o Mrs. J. Carruthers, meine Haushälterin, die sie mir nach Bangkok nachsendet.
Hochachtungsvoll,
Elizabeth Lisle
Doreen Grix weinte dem Mädchen keine Träne nach. Anna Lisle war ein seltsames kleines Ding, das der Schule keinen Nutzen brachte und während der Ferien versorgt werden musste.
Die Schulleiterin heftete den Brief ab und erachtete das Thema als abgeschlossen.
Einige Tage später, als alle Bediensteten das Haus verlassen hatten, um ihre neuen Stellen anzutreten, und nur noch Mrs. Carruthers da war, kehrte Mary nach Cadogan House zurück. Anna, die sie bei Sheila ließ, hatte sie erklärt, sie wolle nach Kent zu ihrer Schulleiterin fahren und ihr erklären, dass Anna nicht ins Internat zurückkehren würde.
Mary traf Mrs. Carruthers im Obergeschoss an, wo sie Bettzeug in große Koffer packte.
»Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden«, sagte sie.
Mrs. Carruthers wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf. »Dann machst du es also wirklich?«
Mary nickte. »Mir bleibt keine andere Wahl.«
»Solange du dir über die Risiken im Klaren bist. Weiß Anna, dass sie nie mehr nach Cadogan House zurückkehren darf?«
»Nein.« Mary seufzte. »Halten Sie meine Entscheidung für falsch?«
»Manchmal müssen wir unserem Herzen folgen. Ich wünschte, ich wäre in jungen Jahren dem meinen gefolgt.« Mrs. Carruthers sah mit schmerzerfülltem Blick aus dem Fenster. »Ich war einmal mit einem Mann zusammen, mit dem ich ein Kind hatte. Als der Mann sich aus dem Staub gemacht hat, musste ich Geld verdienen und habe das Kind zur Adoption freigegeben. Diesen Schritt bereue ich bis heute.«
»Das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung …«
»Woher auch? Ich habe es dir ja nie erzählt. Du liebst Anna wie eine Mutter. Dein Vorgehen ist in ihrem Interesse, wenn auch nicht unbedingt in deinem eigenen. Wenn du erwischt wirst …«
»Ich weiß.«
»Du weißt auch, dass ich dich nicht verraten werde?«
»Ja.«
»Aber dir ist klar, dass wir uns, sobald du deinen Plan in die Tat umgesetzt hast, nicht mehr treffen können. Ich würde sonst als Komplizin bei einer Kindesentführung gelten, und ich habe keine Lust, meine letzten Jahre in Holloway zu verbringen.«
»Ja«, sagte Mary, »das kann ich verstehen. Danke.« Einem plötzlichen Instinkt folgend, umarmte sie Mrs. Carruthers.
»Hör auf damit, sonst kommen mir die Tränen. Geh jetzt lieber.«
»Ja.«
»Viel Glück!«, rief Mrs. Carruthers Mary nach, als diese die Tür erreichte.
Mary verließ das Haus, während Mrs. Carruthers hineinging, um sich eine weitere Tasse Tee zu kochen. Erst da bemerkte sie den kleinen Lederkoffer, der an der hinteren Tür stand. Sie schaute noch einmal hinaus, doch Mary war schon weg. »Tja, zu spät«, murmelte sie und nahm den Koffer, um ihn wieder in den Speicher zu bringen.
Zwei Stunden später stieg Mary in Tunbridge Wells aus und erkundigte sich nach dem Weg zum nächstgelegenen Postamt, wo sie sich in die Warteschlange stellte.
»Ich möchte ein Telegramm nach Bangkok aufgeben«, erklärte sie der jungen Frau am Schalter, als sie an der Reihe war. »Hier sind Adresse und Text.«
»Gern, Miss«, sagte die Frau und warf einen Blick auf ihre Preisliste. »Nach Bangkok, das macht sechs Shilling Sixpence.«
»Danke.« Mary zählte das Geld ab und schob es ihr hin. »Wann kommt es an?«
»Spätestens heute Abend. Wir senden alle Telegramme nach Schalterschluss.«
»Und wann ist eine Antwort zu erwarten?«
»Sobald der Empfänger sie schickt. Kommen Sie morgen Nachmittag wieder. Vielleicht ist bis dahin etwas für Sie da.«
Mary nickte. »Danke.«
Sie verbrachte die Nacht in einer Pension, die sie den ganzen Tag über nicht verließ, damit möglichst wenige Menschen sie sahen. So blieben ihr viele Stunden zum Grübeln.
Auf dem Papier tötete sie das Kind, das sie liebte. Und in der Realität raubte sie ihm seine Chance auf eine Zukunft bei einer wohlhabenden Familie.
Doch ihr Instinkt sagte Mary, dass Anna sich kaum Hoffnungen darauf machen konnte, von ihrem Vormund und seiner Frau wirklich in die Familie aufgenommen zu werden. Außerdem würden bis zu ihrer Rückkehr aus Bangkok fünf Jahre vergehen. Fünf Jahre, die Anna, wenn Mary nichts unternahm, einsam und verlassen an einem Ort zubringen
Weitere Kostenlose Bücher