Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
würde, den sie hasste. Als Mary am folgenden Tag mit wild pochendem Herzen zum Postamt ging, war ihr klar, dass das Gelingen ihres Plans von der Erleichterung der Lisles über Annas Verschwinden aus ihrem Leben abhing.
Elizabeth Lisle betrat das Büro ihres Mannes mit dem Telegramm in der Hand. Sie bemühte sich um eine angemessen schockierte und kummervolle Miene.
»Ich fürchte, ich habe sehr traurige Nachrichten.«
Lawrence Lisle nahm, erschöpft von der schwülwarmen Bangkoker Nacht, das Telegramm entgegen, las es schweigend und stützte den Kopf in die Hände.
»Ich weiß, Schatz, ich weiß.« Elizabeth legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. »Was für eine Tragödie.«
»Meine Anna … mein armes kleines Mädchen …« Ihm traten Tränen in die Augen. »Ich muss sofort nach England, mich um die Beerdigung kümmern.«
Er weinte sich an Elizabeths Schulter aus.
»Ich hatte ihrer Mutter versprochen, auf sie aufzupassen, Elizabeth. Es war falsch, sie in England zu lassen … Sie hätte uns begleiten sollen.«
»Mir war von Anfang an klar, wie zerbrechlich Anna ist. Sie war so blass und schmal, und dann noch dieses Stottern. Schrecklich, dass an der Schule diese Grippewelle aufgetreten ist. Sie besaß nicht genug Kraft, sich dagegen zu wehren. Wenn sie uns begleitet hätte, wäre sie möglicherweise einer der vielen Tropenkrankheiten hier zum Opfer gefallen.«
»Aber dann wäre sie wenigstens bei uns gewesen und nicht in diesem verdammten Internat«, jammerte Lawrence.
»Lawrence, ich kann dir versichern, dass ich sie keiner Institution anvertraut hätte, bei der sie nicht in guten Händen gewesen wäre«, erklärte Elizabeth. »In dem Telegramm steht, dass die Schulleiterin Anna sehr mochte.«
»Entschuldige, Liebes«, sagte Lawrence hastig. »Du hast keinen Fehler gemacht. Nein, es war meine Schuld. Und jetzt ist Anna tot … Mein Gott. Ich muss so schnell wie möglich nach England! Wenigstens im Tod muss ich für sie da sein, wenn ich sie schon im Leben im Stich gelassen habe.«
»Mach dir keine Gewissensbisse. Du hast getan, was viele andere nicht getan hätten: ihr ein Zuhause und Zuneigung geschenkt und sie zehn Jahre lang wie dein eigenes Kind behandelt.« Elizabeth kniete neben seinem Stuhl nieder und nahm seine Hände in die ihren. »Lawrence, du kannst nicht zu der Beerdigung. Die Reise nach England dauert sechs Wochen. Annas Seele soll so schnell wie möglich ihren Frieden finden. Die Schulleiterin bietet uns an, alles für uns zu erledigen. Anna zuliebe sollten wir ihr Angebot annehmen.«
Lawrence nickte erst nach einer ganzen Weile. »Du hast recht«, sagte er traurig.
»Ich beantworte das Telegramm für dich«, versprach Elizabeth mit sanfter Stimme. »Die Schulleiterin schlägt den örtlichen Friedhof als letzte Ruhestätte vor, wenn du keine anderen Wünsche hast.«
Lawrence blickte seufzend zum Fenster des Konsulats hinaus. »Ich weiß nicht einmal, welchen Glauben Anna hatte. Ich habe so vieles nicht gefragt … Ja, wir machen, was die Schulleiterin vorschlägt.«
»Dann danke ihr für ihr freundliches Angebot und bitte sie, die nötigen Arrangements zu treffen.«
»Ja, Liebes.«
»Lawrence, da wäre noch etwas anderes, was ich dir sagen muss.« Elizabeth schwieg kurz. »Eigentlich wollte ich warten, aber unter den gegebenen Umständen könnte es dir helfen.« Sie erhob sich. »In sieben Monaten werden wir selbst ein Kind haben.«
Lawrence sah seine Frau mit großen Augen an. »Das ist ja wunderbar! Bist du sicher?«
»Ja.«
Er stand ebenfalls auf und legte die Arme um sie. »Entschuldige, aber das ist alles ein bisschen viel.«
»Das kann ich verstehen.«
Lawrence strich seiner Frau über die Haare. »Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir es ›Anna‹, nach dem Kind, das wir verloren haben.«
»Natürlich, Schatz.« Elizabeth rang sich ein Lächeln ab. »Wenn du meinst.«
Mary nahm das Telegramm von der jungen Frau hinter dem Schalter entgegen. Ihre Hände zitterten, als sie hinausging und sich auf die nächste Bank setzte, um es zu lesen. Von der Antwort der Lisles hing wirklich alles ab.
LIEBE MRS. GRIX (STOP) DIE NACHRICHT VON ANNAS ABLEBEN STI MMT UNS SEHR TRAURIG (STOP) DA ES UNS BEIDEN UNMÖGLICH IST NACH HAUSE ZURÜCKZUKEHREN SIND WIR DANKBAR FÜR IHRE HILFE BEI DER ORGANISATION DER BEISETZUNG (STOP) WIR NEHMEN IHREN V ORSCHLAG AN (STOP); BITTE INFORMIEREN SIE UNS ÜBER DIE KOSTEN (STOP) DANKE FÜR IHRE FREUNDLICHKEIT UND GÜTE GEGENÜBER ANNA (STOP)
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