Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
werden die Erträge schon reichen, bis wir wieder brauen dürfen. Haben nicht die meisten Leute viel weniger als wir?«
Erleichtert lehnte Magda den Kopf an seine Schulter. Sie saßen am Rand der Allmende auf bemoosten Steinen und blickten über das zottige Gras, an dem die Ziegen rupften, bis hinüber zum Wald. Für gewöhnlich schlugen sie sich um diese Jahreszeit in das duftende Dickicht der Bäume, um den harzigen Kiefernhonig zu sammeln, von dem Magda nie genug bekommen konnte. Nach den endlosen Wolkenbrüchen jedoch versank der Wald schier im Sumpf, und ihn zu betreten konnte das Leben kosten. Aber was war schon dabei, einen Winter lang ohne Honig zu leben? Sie hatten ein warmes Haus, sie hatten Brot genug und sie hatten einander!
»Für die Linharts an der Mauer sieht es übler aus«, bemerkte Endres, als läse er ihre Gedanken. »Sie haben nichts eingelagert. Utz sagt, sie würden am liebsten in unser Lager einbrechen und uns das letzte Fass stehlen.«
Die Linharts an der Mauer waren ihre Rivalen, eine Familie von Bierbrauern, in der jeder Erbsohn wiederum den Namen Linhart erhielt. Ihr Brauhaus samt Ausschank hatten sie nicht in der Braugasse, sondern dort, wo sich die zweimal mannshohe Stadtmauer erhob. »Keine ehrbare Gegend«, pflegte der Großvater naserümpfend zu bekunden, denn an der Mauer befand sich das Haus des Blutvogts, und was der berührte, hatte mit einem Schlag seine Ehrbarkeit verloren. Die käuflichen Weiber und das finstere Gelichter trieben sich dort herum, aber dafür, fand Magda, konnten die Linharts ja nichts. Sie hatten ihre Brauerei in jener Gasse gehabt, lange bevor sich der Rat von Bernau entschloss, die imposante Mauer hochzuziehen und damit der Welt zu zeigen, dass Bernau nicht einfach eine Siedlung war, die wieder verschwinden würde, sondern eine Stadt – stolz und sicher befestigt wie die Burg eines adligen Herrn.
»Stadt ist, was Stadt sein will«, behauptete Utz. »Doch Bernau hätte früher aufstehen müssen, um im Wettlauf der Städte mitzuhalten.« Ganz verstand Magda nicht, was der Bruder, der unentwegt gelehrt daherschwatzte, damit zu erklären versuchte. Sie war jedoch hell genug, zu begreifen, dass die Stadt sich um das Schicksal der Linharts nicht scheren konnte, wenn sie in der neuen Welt, die Utz heraufziehen sah, bestehen wollte.
Endres legte den Arm um sie und ließ seine Finger zögerlich auf ihren Rippen spielen. Magda spürte die sachte Berührung, und ein Schauder jagte über ihren Rücken. Augenblicklich wünschte sie sich, seine Finger würden fester, fordernder zupacken, weiterwandern, sich die Linien ihres Leibes ertasten, wie sie sich die seinen hätte ertasten wollen. Sie zuckte zusammen. War das wirklich sie, die das gewünscht hatte? Sie, die tugendsame Enkelin von Brauer Seyfrid, dem Harzer?
»Was ist denn?«, fragte Endres. »Frierst du? Du zitterst wie Espenlaub, dabei ist noch nicht mal November.«
Magda musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht loszuprusten. Wusste Endres wirklich nicht, dass das, was sie zittern ließ, alles andere als Kälte war? Diether, dessen war sie sicher, hätte es gewusst, und sie selbst wusste es auch, obwohl Diether ihr immer wieder sagte, von solchen Dingen dürften kleine Mädchen gar nichts wissen. Er grinste ja dabei, und wenn sie ihn bestürmte, es ihr zu erklären, hielt er nicht lange stand, sondern flüsterte ihr das verbotene Geheimnis ins Ohr. Endres hingegen war im Vergleich zu ihnen der reinste Unschuldsengel. Ein Schwall Zuneigung schwappte über Magda. Im Nu hatte sie die Arme um ihn geworfen und ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt.
Endres’ Blick war Gold wert. Verstört starrte er sie an, während seine Hand hinauf an seine Wange wanderte, als hätte er keinen Kuss, sondern eine Backpfeife bekommen. Als er endlich den Mund öffnete, sah Magda, dass ihm die Oberlippe bebte. Ich hab ihn ja lieb, dachte sie und spürte Wärme, die aus ihrem Unterleib in ihren ganzen Körper stieg. Ich hab diesen schüchternen, verlässlichen Burschen ja wirklich und wahrhaftig lieb.
»Mir kommt nicht recht vor, was wir tun«, sagte Endres und senkte den Kopf.
»Aber warum denn nicht, um alles in der Welt?«
»Dein Großvater war besser zu mir, als jeder Verwandte es hätte sein können«, antwortete Endres zum Boden gewandt. »Und deine Brüder, Lentz und Utz, sie dulden mich, obwohl sie die Arbeit leicht allein schaffen könnten. Ich käme mir vor wie ein Schuft, wenn ich mit dir etwas täte, das
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