Das Mädchen aus dem Meer: Roman
zu ihren Füßen auf dem Stein zitterte. Als er es behutsam drehte, machte er tatsächlich einen rosigen, rundlichen Schnabel aus, der aus einem daumendicken Loch lugte. Fasziniert hob er das Ei auf, um dem Wunder des beginnenden Lebens aus nächster Nähe beizuwohnen, und im nächsten Moment verstand er, wieso dieses Küken keinen spitzen Schnabel benötigte wie die meisten anderen Vogelarten, die er kannte: Dieser Vogel hatte Zähne, und als er sein nasses, nacktes Köpfchen durch die Schale rammte, kaum dass sich Froh wieder aufgerichtet hatte, bestand sein erster Impuls darin, Froh einen Finger abzubeißen.
Wenigstens fühlte es sich im ersten Moment so an.
Erschrocken ließ er das Ei wieder los, aber es purzelte nicht auf den Boden, sondern baumelte einen Moment in der Luft unter seiner Rechten, denn das Küken dachte überhaupt nicht daran, seine winzigen, pfeilspitzen Zähne von seinem Mittelfinger zu lösen. Stattdessen sprengte es den Rest der Schale kraft seiner ebenfalls nackten Schwingen, sodass sie ihm in einer kleinen Explosion bis ins Gesicht spritzte, zappelte kurz ebenso heftig herum wie Froh selbst, der es mit schmerzlich verzogener Miene abzuschütteln versuchte, und bekam schließlich Frohs Handgelenk mit seinen überproportional großen Klauen zu fassen. Erst als der Vogel auch seine fledermausartigen Schwingen um seine Hand geschlungen hatte und den langen, echsenhaften Schwanz um seinen Unterarm wand, löste er den Schnabel aus Frohs Finger, der jetzt aus mehr als zwanzig winzigen Wunden blutete.
Der Schmerz ließ nach, und das Küken begrüßte die Welt mit einem unwilligen Kreischen. Doch aufatmen konnte Froh trotzdem nicht. Er starrte das Wesen an, und es erwiderte seinen Blick mit, wie er fand, zornig funkelnden, viel zu großen Augen. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Chita hingegen betrachtete die geflügelte Kreatur nur kurz mit einer Mischung aus Faszination und Verachtung und schob sich dann eine aufgeweichte Maulbeere in den Mund.
»Ka-ka-ka-ka-karrrrr …!«, brüllte der Vogel und reckte Froh in ungeduldiger Erwartung der ersten Mahlzeit seines Lebens einen kleinen Kopf an einem viel zu langen Hals entgegen. Er sperrte das Maul auf, und Froh sah eine lange, an der Spitze gespaltene Zunge und wirklich mehr als zwanzig winzige, süßwasserperlenweiße Zähne.
»Sag ich doch: ein Stotterer«, kommentierte Chita schmatzend und ließ sich wieder auf den Felsen sinken. »Übrigens: Er hält dich für seine Mutter. Und er hat Hunger.«
»Du … du hast die Wahrheit gesagt …«, flüsterte Froh ungläubig. Das Rauschen der Brandung und das Geschimpfe des Vogels schluckten seine Stimme.
»Hm?«, machte Chita halbherzig.
»Was soll ich ihm geben?«, erkundigte sich Froh nicht minder abwesend. Hinter seiner Stirn pochten ganz andere Fragen nachdrücklich gegen seinen Schädel. Wenn die Geschichte von den Stotterern stimmte, dachte er, dann …
»Falls du eine Ratte findest, kannst du sie zu Brei zerkauen und ihm in den Rachen schieben«, antwortete Chita. »Aber du kannst es auch mit Austern oder dergleichen versuchen. Hauptsache Fisch, Fleisch oder zumindest etwas Ähnliches.«
Froh schüttelte den Kopf, ohne das Ding an seinem Arm für einen Lidschlag aus den Augen zu lassen.
»Es ist zu dunkel«, bedauerte er. »Und es gibt keine Ratten auf diesem Stein. Es gibt nicht einmal Käfer oder Fliegen. Es gibt keine Muscheln und keine Korallen, und da hinten, nur ein kleines Stück unter der Wasseroberfläche, wächst ein Maulbeerbaum …«, zählte er zusammen. »Es ist … Du hast …«
Von jäher Kraftlosigkeit übermannt und trüber Leere erfüllt ließ er sich samt des nach wie vor stotternden Geschöpfs neben sie sinken.
»Ja?«, hakte Chita nach, hielt ihm eine der salzig-süßen Früchte hin und zog die Hand rasch wieder zurück, als der frisch geschlüpfte, samt Schwanz einen halben Arm messende Stotterer mit dem Maul danach langte.
»Deine Geschichte ist wahr, oder?«, erkundigte sich Froh tonlos. »Es ist keine Metapher. Du hast keine Botschaft für mich. Du bist überhaupt nicht meine Aufgabe. Alles, was du erzählt hast, entspricht der Wahrheit.«
»Fast«, schränkte Chita schulterzuckend ein. »Zugegeben: Dein Küstenäffisch war eine der wenigen Sprachen, die ich schon unter Moijo fast fließend lernte. Meine Zeit in Silberfels war viel zu knapp bemessen, um alle Sprachen zu lernen. Aber ich werde daran arbeiten, sobald alles wieder seinen geregelten Gang
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