Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Sie lachte bitter, schüttelte dann aber den Kopf und fuhr fort: »Wenn Cocha neben den beiden ging, sah es immer so aus, als dümpelte eine Seekuh neben Haien her. Na ja … Meine Lieblingsseekuh brauchte jedenfalls fast eine Woche, um sich wieder zu beruhigen. Oder zumindest, um an einen Punkt zu gelangen, an dem sie für eine Aussprache bereit war. Aber dann wurde alles wieder gut, Froh. Alles.«
»Eure Schulstadt lag in Trümmern, dein älterer Bruder war sterbenskrank, dein jüngerer Bruder war entführt worden, deine Eltern, die ständig ahnungslose Menschen ermorden ließen, starben tausend Tode vor Sorge um alle ihre Kinder – und alles war gut?«, staunte Froh.
»Wenigstens für ein paar Stunden. Es gibt Momente, in denen sich alles Schlechte einfach auflöst«, bestätigte Chita. »Sogar in meinem verkorksten Leben.«
»Die Götter können sehr gnädig sein«, nickte Froh.
» Cocha war gnädig«, betonte Chita. »Er hat mich mit meinem Kummer und all meinen körperlichen Blessuren tagelang allein gelassen, und anfangs war ich sehr enttäuscht darüber. Ich dachte, ich hätte ein wenig Trost und Fürsorge bitter nötig und auch verdient. Stattdessen sah ich allein zu, wie meine Schrammen und Wunden langsam verkrusteten. Niemand brachte mir eine Salbe oder auch nur etwas, womit ich mich selbst verbinden konnte. Verglichen mit mir hatten die Kranken in der Grotte in erheblichem Luxus geschwelgt.
Ich bekam außerdem ebenso wenig zu essen wie alle anderen auch. Also fast nichts, denn in unserem provisorischen Lager, in dem wir nicht einmal ein Feuer entzünden konnten, weil der Rauch uns vielleicht verraten hätte, mangelte es selbst an den elementarsten Dingen.
Mehr als einmal war ich drauf und dran, die Stutenmilch, die ich dem Kind einflößen sollte, selbst zu trinken. Aber einen kleinen, verwässerten Teil davon verwendete ich schon darauf, meinen Beutelwolf durchzubringen, und wenn ich dem Baby noch mehr vorenthalten hätte, wäre es wahrscheinlich verhungert. Das hätte Cocha mir wirklich nie verziehen. Jedenfalls hatte ich genug Zeit, um über alles nachzudenken. Ich hatte Zeit, in mich zu gehen, und ich begann an mir zu zweifeln. Das passiert mir nicht oft.«
»Du hast dich bei Cocha entschuldigt?«, riet Froh.
»Nachdem ich eine Ewigkeit vor mich hinvegetiert hatte, fast unter freiem Himmel und das auch noch im Herbst, schickte er Mikkoka und den Baummann mit dem Baby fort und setzte sich zu mir in das primitive Zelt«, erklärte Chita und legte ihren Kopf auf Frohs Schulter. »Er sagte, dass Kratt über mich entschieden hätte und dass er am nächsten Morgen mit mir sprechen würde. Mein Welpe hüpfte aus meinem Arm und in seinen Schoß, und ich wünschte, ich wäre auch ein kleiner Beutelwolf gewesen. Der hatte es leicht!
Aber ich war eben ich, und ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Tagelang hatte ich mir das Hirn darüber zermartert, wie ich ihm gegenübertreten wollte, was ich sagen sollte, wie ich mich erklären könnte. Letztendlich war ich zu dem Schluss gelangt, dass alles, was ich hätte sagen können, war, dass ich ihn liebte. Und dass mir nichts auf der Welt so wichtig war wie er. Nicht einmal meine Brüder, und erst recht nicht seine Paradieslosen. Seit Monaten dachte ich jeden Tag und jede Nacht nur noch an ihn, und alle anderen waren nur austauschbare Randfiguren, die die Landschaft mehr oder minder schmückten.
Aber als er mir dann gegenübersaß und mich stumm mit seinen eisblauen Augen betrachtete, war mir, als raubte jemand alle Wörter aus meinem Kopf. In sämtlichen Sprachen. Und als sie zurückkamen, da drängten sie sich ohne Sinn und Verstand über meine Lippen. Ich stammelte von Moijo und Sora, von Freiheit und Hohenheim, von Anna und der Exkursion, von Göttern und Primitiven und Raupen im Kopf, und allein die Sterne wissen, wovon noch. Und irgendwann seufzte er einfach nur, schob meinen Wolf davon und legte seinen Arm um mich, um meinen Kopf auf seine Brust zu betten. Und ich heulte mal wieder Rotz und Wasser. Aller Stress und Kummer und die schrecklichen Eindrücke aus Silberfels schlüpften in meine Tränendrüsen und sprudelten meine Wangen hinab. Und er küsste mir all das aus dem Gesicht und hielt mich einfach nur fest. Das war genau das, was ich gebraucht hatte. Es war alles, was ich mir gewünscht hatte, und es ist immer noch das, was mir so sehr fehlt, Froh. Er fehlt mir so sehr. Mehr als meine Familie, mehr als Hohenheim, mehr als Cypria.
Alles
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