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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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hatte, der sie aber anscheinend auch längst nicht mehr brauchte. Von Zeit zu Zeit verschwand er aus unserem jeweiligen Lager, kehrte aber immer nach wenigen Stunden gesättigt und zufrieden zu mir zurück, was mich immer wieder ein bisschen stolz und glücklich stimmte. Du weißt ja sicher, was man über kleine Kinder und Tiere und deren Intuition sagt …
    Dass der kleine wilde Beutelwolf mich offenkundig gern hatte, bedeutete für mich, dass ich ein liebenswerter, guter Mensch war. Auch wenn Mikkoka mir unentwegt das Gegenteil einzubläuen versuchte. Ich litt nicht nur unter der Schwäche, der Kälte, der elenden, stinkenden Feuchtigkeit, die sich in meine Kleider fraß, und den körperlichen Schmerzen, sondern auch unter ihren anhaltenden Demütigungen, gegen die selbst Cocha irgendwann nichts mehr sagte. Es hatte ja keinen Sinn.
    Aber nachts an seiner Seite, wenn er im glimmenden Schein der einzigen Lampe, die wir besaßen und zu entzünden wagten, seine Linien und Kreuze und Pfeile auf den großen Papierbogen kritzelte und ich mit dem Welpen, der wie ein Baby für mich war, kuschelte, oder – leise natürlich – auf meiner Flöte spielte oder meinen herzförmigen Rhodolithen zwischen den Fingern drehte und an meinen Bruder Sora dachte und mir einbildete, er könne meine Gedanken in seinem Kopf hören und würde sogar antworten und mir Zuspruch spenden – da war es allem Elend zum Trotz manchmal regelrecht schön, mit den Abtrünnigen unterwegs zu sein.
    Ja, ich durchlitt so einiges. Aber das war der Preis für die Freiheit. Freiheit an Cochas Seite … Was konnte es Größeres geben?
    Nach den ersten zehn Tagen verlief unsere Reise dann deutlich angenehmer. Zu meiner Überraschung gab es kaum ein Dorf, in dem Kratt nicht zumindest einen Verbündeten kannte, und einer dieser Verbündeten – ein wohlhabender Münztauscher – überließ uns einen Esel, der fortan einen Teil unseres Gepäcks schleppte. Eine große Erleichterung!
    Die meisten der Menschen, zu denen Kratt uns führte, waren aber ziemlich arm. Außerdem hatte das Beben überall sichtbare Schäden hinterlassen. Trotzdem hatte fast jeder einen Kanten Brot, ein Stück Käse, etwas Pökelfleisch oder dergleichen für uns übrig, sobald der erste Schreck über Trontos Anblick verebbt war. Wir lebten mehr als knapp am Limit und außerdem in der stetigen Gefahr, von Kriegern meines Vaters entdeckt und auf gut Glück verhaftet zu werden; allein schon, weil ein abgerissener Haufen, wie wir einer waren, einfach irgendetwas zu verbergen haben musste . Ich wusste ja nicht, dass mein Vater schon vor einem knappen Jahrzehnt ein Kopfgeld auf Kratt ausgesetzt hatte. Niemand, außer unseren Kriegern und Kratt selbst, ahnte etwas davon …
    Aber wenigstens den Hungertod mussten wir nicht fürchten. Hin und wieder nächtigten wir außerdem auf verschiedenen Kornspeichern, in diversen Schuppen, zwischen Familienverbänden und deren Vieh in ärmlichen Langhäusern, und einmal sogar in einem Salzlager, was recht unbequem, aber wenigstens trocken war. Außerdem fühlte ich mich am Morgen danach erstaunlich erholt und gestärkt, obwohl ich natürlich völlig durchgefroren war. Aber man gewöhnt sich an vieles, wenn man muss, glaub mir. Dazu gehörte neben Kälte auch die Unterernährung.
    Es ist schon erstaunlich, mit wie wenig Nahrung der Körper auskommt, wenn er muss. Das hatte ich schon in unserem provisorischen Lager bei Silberfels gemerkt. Anfangs hatte ich geglaubt, keine drei Tage zu überstehen. Ich bekam ja keine ganze Handvoll Nahrung zugeteilt, und davon war auch noch die Hälfte verschimmelt, sodass ich lieber ganz verzichtete, als Gefahr zu laufen, mir eine schlimme Magenverstimmung oder gar eine ernsthafte Krankheit zuzuziehen. Tagein, tagaus rumorte es in meinem Bauch, und irgendwann schmerzte der Hunger so sehr, dass es mich große Willenskraft kostete, nichts von der Milch zu nehmen, die meinem Pflegekind gehörte. Aber dann, auf einmal, hatte es aufgehört, und ich fühlte mich seltsam leicht, frei und stark. Das wenige, was ich im Laufe unserer anschließenden Reise bekam, aß ich eigentlich nur noch, weil mein Verstand mir sagte, dass ich essen musste, um am Leben zu bleiben. Aber richtigen Hunger verspürte ich längst nicht mehr. Ich glaube, mein Körper hat das Betteln einfach irgendwann aufgegeben.
    Jetzt bin ich schon wieder ganz vom Thema abgekommen. Wo ich war, als die Welle kam, hast du gefragt. Also: Ein paar Monate zuvor war ich noch

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