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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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ziemlich weit weg von Kantorram und vorgeblich tot. Damit niemand das Symbol in meinem Nacken sah, verbarg ich es unter einem Tuch, das ich mir um den Hals wickelte. Wo auch immer wir Unterschlupf fanden, stellte Mikkoka mich als Lorra Riffima vor, was Hondrisch ist und die dumme Blonde bedeutet. Und ich war immer drauf und dran, sie im Gegenzug in irgendeiner anderen fremden Sprache als das Trampeltier mit dem Verstand einer Darmbakterie vorzustellen, aber dann hätte sie mir nur wieder wehgetan, sobald niemand hinsah. Darum schluckte ich ihre Beleidigung einfach. Außer mir verstand ihr gebrochenes Hondrisch, das sie sich was weiß ich wo angeeignet hatte, sowieso keiner.
    Es war eine interessante Erfahrung, ein paar Wochen lang nicht die Tochter des Faros, sondern bloß eine unbedeutende Abtrünnige zu sein. Ich war es gewohnt, dass die Menschen zu mir aufblickten wie zu einer Spezies von einem fremden Stern, und dass sie nervös wurden, wenn sie mit mir sprachen, und vor lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, nur noch Unsinn redeten. Ähnlich wie ich, wenn ich mich in die Enge getrieben fühle.
    Aber abgesehen von den Kindern, die durch die Bank hin und weg waren von meinem zahmen kleinen Beutelwolf und mich darum überall, wo wir einkehrten, umringten und quietschend und staunend ihre Patschehändchen nach meinem Welpen ausstreckten, behandelte man mich während unserer Reise normal, weißt du?
    Manche Menschen klagten Kratt, in dem sie einen Hoffnungsträger sahen, ihr Leid über ihre Armut, oder sie hielten ihn für einen Heißsporn und ermahnten ihn, mit allem, was er und die Paradieslosen zu unternehmen gedachten, zu warten, bis sie eine richtige, umsetzbare Alternative zum bestehenden System entwickelt hatten. Schließlich, so meinten einige, und da stimmte ich ihnen insgeheim voll und ganz zu, während ich als unbedeutender Niemand danebenhockte und ihnen lauschte, sei es nicht der richtige Weg, bestehende Missstände gegen neue Missstände einzutauschen. Der Preis für die Mindestversorgung, die jedem Cyprier zustand, war zwar hoch, müsste aber irgendwie gezahlt werden. Letztlich musste niemand erfrieren oder verhungern, auch wenn es besonders im Winter hin und wieder ganz schön eng wurde. Mein Vater sorgte für Brot und Spiele, wenngleich im überschaubaren Rahmen, und nicht zuletzt hatte jedes Kind das Recht, eine Schule zu besuchen, was auch nicht zu verachten war und irgendwie bezahlt werden musste. Nun auch noch für die Alten und Kranken aufzukommen oder gar auf die Expeditionen an die Küsten der Primitiven zu verzichten, sei eine schöne Idee und zeuge von großer Gewissenhaftigkeit und Ehre, mehr aber auch nicht. Letztlich sei man zwar nur ein armer Mann oder eine arme Frau ohne nennenswerte Bildung, rechnen könne man auch nicht besonders gut, und Kratt wisse bestimmt, was er tue, aber bei allem Respekt: Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie dieser Kontinent in fünfzig Jahren aussieht, wenn jeder Simpel auf sämtliche Bürgerrechte pochen und sich ganz nach Belieben weitervermehren kann? Ich hatte mal eine Kuh, die blind war, und deren Kälber kamen ebenfalls blind zur Welt, das wollte ich nur mal erwähnt haben …
    Solche und andere Sachen sagten die Leute, und Kratt nahm ihren Zuspruch wohlwollend auf oder zerpflückte ihre Zweifel mit ellenlangen Ausführungen seiner Ideen oder Zahlenkolonnen, denen niemand folgen konnte, bis sie überzeugt von ihm waren oder resignierten. Aber die meisten Menschen brachten uns einfach irgendwo unter und gingen ihrem Tagwerk nach, als wäre nichts gewesen.
    Ich beobachtete sie dabei und tat, als sei der Anblick von Kindern, die nach Schulschluss mit blutigen Händen bei klirrender Kälte Leder gerbten, und Frauen, die mit Säuglingen auf dem Rücken Schafe ausweideten, während die Männer, sobald sie abends heimkehrten, die Schäden, die das Beben angerichtet hatten, wenigstens provisorisch behoben, nichts Besonderes für mich. Ab und zu packte ich sogar mit an, obwohl ich nach den weiten Strecken des jeweiligen Tages selbst völlig am Ende war. Trotzdem: Ich war froh, irgendwo irgendwem helfen zu können und schluckte die Kritik, die ich nicht selten für mein mangelndes handwerkliches Geschick und die zahlreichen Fehler erntete, mit Demut und sogar einem Hauch von Dankbarkeit. Ich sammelte Erfahrungen als normaler Mensch, und ich bin froh, sie gemacht zu haben.
    Weniger erfreute mich, dass sich der ohnehin zu frühe Herbst bloß ein kurzes

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