Das Mädchen aus dem Meer: Roman
und Anna das andere Pferd zuteilte und hinaufhalf, und ich tat die ganze Zeit über eigentlich nichts anderes, als die Nase ins feuchte, aber warme Fell meines Beutelwolfwelpen zu schrauben und mich intensiv für uns zu schämen. Ich meine: Natürlich war es eine große Erleichterung, nicht mehr zu Fuß durch den nassen, kalten Schnee stampfen zu müssen. Aber die Männer, die Kratt überfallen hatte, waren nur arglose, unbescholtene und zudem in Not geratene Bürger gewesen, die sich nun – auch unter einem Berg von Stoff – die sprichwörtlichen Glöckchen stumpf froren, damit wir Mädchen das letzte Stück reiten konnten, auf das es jetzt eigentlich auch nicht mehr angekommen wäre.
Dass die Pferde nicht allein unserer Entlastung galten, machte mir erst Golondrin klar, der mein offensichtliches Unbehagen hinterfragte.
»Weißt du, Chita,«, erklärte er schließlich, wobei er bemerkenswerterweise keinen Deut vorwurfsvoll klang, sondern vollkommen sachlich, »manchmal hat Mikkoka nicht ganz unrecht, wenn sie sagt, dass du dich selbst für zu wichtig hältst. Anna und du – ihr reitet, weil es sich anbietet, die Schwächsten reiten zu lassen. Aber eigentlich brauchen wir die Pferde nur, weil kaum ein Krieger die Strecke von Lurd nach Norgal, zu Fuß zurücklegen würde. Der Verlust eines Tieres lässt sich leicht erklären; insbesondere bei diesem Wetter. Aber drei …? Die Schabracken haben wir übrigens ein paar festsitzenden Händlern überlassen, damit sie den Planwagen, in dem sie ausharren, zusätzlich abdichten können. Nur, falls ausgerechnet dich jemand danach fragt.«
»Wichtig ist auch, dass du verstört wirkst, sobald wir in die Stadt einkehren«, tönte Trontos Stimme dumpf durch den teuren Stoff, mit dem sein Gesicht umwickelt war.
»Guck einfach wie immer«, schlug Mikkoka vor.
»Aber auch erleichtert«, führte Tronto weiter aus. »Sprich nur, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden lässt. Stimme allem zu, was Kratt sagt, und tu, was er dir aufträgt. Schaffst du das?«
»Klingt nicht über alle Maße anspruchsvoll«, antwortete ich pragmatisch.
Oh, da kommt schon deine Suppe. Lass es dir schmecken!
Ganz bestimmt. Besten Dank …
Sobald wir in Sichtweite der Wächter mit den Fernschauern auf der Stadtmauer gerieten, beschlichen mich erste Zweifel, dass Kratts Mummenschanz uns tatsächlich den Weg zum Hafen ebnen würde, denn der führte geradewegs durch Norgal – oder zumindest so dicht an der Stadtgrenze vorbei, dass es auf das Gleiche hinauslief. Und während die Mauer zur Westseite hin zunächst nur von drei Kriegern bewacht wurde, gesellten sich zügig zwei weitere hinzu, als wir uns Norgal näherten. Vielleicht waren es die fehlenden Schabracken, die das Misstrauen der Wachen schon aus der Ferne erregten, oder aber der Umstand, dass sie niemanden aus Lurd erwarteten, da kein Bote vorausgeritten und die bevorstehende Ankunft und den Grund des Besuches angekündigt hatte. Oder ihre Skepsis fußte nicht auf unseren vermeintlichen Kriegern, sondern auf dem Anblick der abgerissenen Gestalten, die sie begleiteten, also unter anderem auf meinem. Oder ihnen war einfach nur kalt, sodass sie froh waren, irgendetwas anderes tun zu können, als sich zusehends in distelähnliche Eisblumen zu verwandeln.
Wie auch immer: Als wir das Stadttor erreichten, erwartete uns ein nicht eben gastfreundlich wirkendes Empfangskomitee von sechs gut gerüsteten Stadtwachen sowie fünf weiteren, die ihre Armbrüste von der Mauer aus auf uns richteten. Kratt und die Zwillinge schritten voran, und die Männer vertraten ihnen den Weg. Ich sah, wie Kratt knapp das Zeichen der Paradieslosen machte. Aber niemand erwiderte es.
»Seid gegrüßt«, grüßte uns der vorderste der Krieger steif, was nicht nur an der Kälte lag. Er war ein Hüne von annähernd zwei Metern, dessen verfilzter Bart wild in alle Richtungen abstand wie Mikkokas Locken und nun so hart gefroren war wie sein Mantel, der starr von seinen Schultern hing. Eisblumen zierten seinen Brustpanzer, und ein Wassertropfen war an seiner Nase erstarrt. Im Stillen nannte ich ihn darum Schnodderzapfen, was – selbst unausgesprochen – ganz schön mutig von mir war, wie ich finde. Und Schnodderzapfen gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen. »Wo kommt ihr her, was wollt ihr hier?«, erkundigte er sich harsch.
»Und wo sind euer drittes Pferd und die Schabracken der beiden anderen?«, fügte ein zweiter Krieger hinzu, der sich nun neben
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