Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Thema zurückzukommen: Ich habe Anna gebeten, so zu zielen, dass sich das Symbol im Nacken der kleinen Faronin auch dann noch gut erkennen lässt, wenn der Kopf fehlt. Wenn du mir nicht glaubst, sieh einfach hinterher nach. Aber wenn du schlau bist, machst du es, bevor du eine Entscheidung triffst. Denn was nützen dir schon zwanzigtausend Münzen am Galgen?«
Nanto runzelte misstrauisch die Stirn, dirigierte Kratt aber dann unwillig mit dem Schwert in die optimale Zielposition für einen der Armbrustschützen auf der Mauer und bedeutete Schnodderzapfen, beiseitezutreten. Damit verschwand zwar die Schwertspitze aus meinem Gesicht, aber ein Grund zum Aufatmen war das für mich noch lange nicht. Ich saß noch immer wie erstarrt auf dem Pferd und wagte es kaum, die Augen zu bewegen, um Anna anzusehen, die mich ruhig und ausdruckslos mit einem Kugelpuffer bedrohte, von dem ich nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, dass wir ihn besaßen, geschweige denn, woher wir ihn hatten. Normalerweise sind nicht einmal die Krieger Jamas damit ausgestattet – bis auf die Leibwache meines Vaters vielleicht, und das auch nur in Ausnahmefällen. So etwas ist Kriegsgerät, allein schon aus Kostengründen. Und der Krieg war ja noch gar nicht ausgebrochen.
Aber zurück zu Nanto.
»Weg mit dem Schal!«, bestimmte er unwillig und fuchtelte kurz mit seiner eigenen Waffe vor meiner Nase herum, bis ihm einfiel, dass ich bereits nachdrücklich genug von Annas Seite bedroht wurde. Also senkte er die Klinge wieder und zerrte kurz, aber hart an dem Tuch, das ich um den Hals und halb um den Kopf gewickelt trug, sodass ich fast vom Rücken des Pferds stürzte, was ich nur darum nicht tat, weil sich die Sicherung des Kugelpuffers mit einem metallischen Klacken löste und Nanto schnell genug wieder von meinem Schal abließ. An seiner statt machte sich nun Schnodderzapfen daran zu schaffen, der deutlich behutsamer vorging. Anna bedeutete mir mit einem Nicken, den Vorgang zu beschleunigen, ohne die Mündung des Schießgerätes von meiner Stirn zu nehmen. Aber ich war unfähig, mich zu regen. Ganz im Gegensatz zum Rest der Welt, die meine Furcht nun in stetig enger werdenden Kreisen um mich herum zu jagen schien. Mir wurde schlecht.
Während ich also mit Übelkeit und Schwindel kämpfte, focht ein Krieger vom Format eines durchschnittlichen Portals mit Pranken wie von einem Berggorilla mit meinem Tuch. Aber Schnodderzapfen verzeichnete schnellere und größere Erfolge als ich. Während ich mich noch sehr konzentrieren musste, um nicht in Ohnmacht zu fallen und zu stürzen (was vielleicht dazu geführt hätte, dass ich aus Versehen erschossen oder erschlagen worden wäre, weil jemand die plötzliche Bewegung falsch verstand), hörte ich ihn verunsichert fragen: »Und jetzt?«
»Und jetzt«, antwortete Kratt geradezu fröhlich, »wünsche ich mir ein Schiff. Bitte seid so nett und geleitet uns zum Hafen. Ich sehe, eure Frauen schaufeln und kehren den Schnee schon fleißig beiseite. Aber ein paar von euch sollten zudem Sand auf der Straße verteilen, damit unsere Pferde nicht auf dem glatten Pflaster ausrutschen. Ich möchte nicht, dass sich unsere kleine Faronin verletzt.«
»Das ist ein Bild, mehr nicht«, schnaubte Nanto. »Nur ein Klecks Farbe unter der Haut. Jeder kann es nachahmen, wenn er seines Lebens überdrüssig ist.«
Kratt zuckte die Schultern. »Vielleicht versuche ich, dich hereinzulegen«, bestätigte er, gab dann jedoch zu bedenken: »Vielleicht aber auch nicht. Du wirst es schon irgendwann herauskriegen. Aber hier und jetzt solltest du das Risiko gegen den Preis abwägen, mein Freund.«
Einer der Krieger, die die Zwillinge zwischenzeitlich dazu genötigt hatten, ihre Waffen abzulegen, schob sich zögerlich durch den Schnee und zischte Nanto etwas ins Ohr, das ich nicht verstand.
»Bist du sicher?«, erkundigte der sich zweifelnd bei seinem Gefährten, der mit einem Nicken bestätigte, was auch immer er gerade gesagt hatte.
»Du da«, wandte sich Nanto an Cocha, der noch immer die Zügel meines Pferds hielt. »Wie lautet dein Name?«
»Ich bin Cocha von Kirm«, erklärte Cocha ruhig. »Mein Vater ist Viraluca von Kirm. Ehe zuerst das Beben und dann die Paradieslosen uns heimsuchten, haben Chita und ich gemeinsam in Silberfels gelebt und gelernt. Unsere Eltern sind eng miteinander befreundet.«
Der dritte Krieger nickte zufrieden. »Genau wie ich gesagt habe«, bestätigte er an Nanto gewandt. »Das hässlichste Kind, das ich
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