Das Mädchen aus dem Meer: Roman
je gesehen habe …«
Nanto schwieg einen Moment, in dem er mich eindringlich betrachtete. Selbst wenn ich nur einen Hauch von Kontrolle über meine Mimik gehabt hätte, hätte ich nicht gewusst, wie ich dazu hätte beitragen sollen, sein Vertrauen zu gewinnen. Aber letztlich wogen die Indizien dafür, dass Kratt die Wahrheit gesprochen hatte, wohl schwerer als die bestimmt nicht uner- hebliche Furcht, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Jedenfalls schritt Nanto nach einer mehr als unangenehmen Weile zurück und bedeutete seinen Mitstreitern, die Waffen zu senken.
»Zum Hafen«, bestimmte er widerwillig.
Kratt verneigte sich knapp und tat eine einladende Geste. »Nach euch«, floskelte er ironisch. »Und wink doch bitte deine Leute von der Mauer, Nanto. Ich mag es, mich auf Augenhöhe zu unterhalten.«
30
F roh fühlte sich schwach und ausgelaugt wie nie zuvor in seinem Leben – nicht einmal in der schlimmsten Dürrephase in seinem kleinen Baumboot war er so erschöpft gewesen. Seine Seele und sein Verstand waren nur noch flüchtige Gäste in einem Körper, der ihm nicht mehr zu gehören schien und kaum noch gehorchte.
Chitas Worte plätscherten auf ihn ein wie eh und je – zumindest kam es ihm vor, als brabbelte sie ihm schon sein ganzes Leben lang in die Ohren. Er wusste kaum noch, wie Stille klang. Und das stetige Donnern malträtierte seinen Kopf auf übelste Weise und zerrte an dem Nervenkostüm, das er so gern abgestreift hätte, aus dem er nur zu gern geflüchtet wäre. Hätte er die Energie dazu aufbringen können, wäre er aufgesprungen, um so lange mit dem Kopf vor die seltsame metallische Hütte in der Mitte des silbernen Plateaus zu rennen, bis Dunkelheit und Stille sich seiner erbarmten und seine Gedanken in ihr schützendes Kleid packten wie vorhin (oder gestern oder vor ein paar Tagen oder in seinem letzten Leben) auf dem Schroff.
Aber er hatte keine Energie mehr. Er konnte ja nicht einmal mehr über dieses metallische, schwimmende Monster staunen, auf das sie ihn verschleppt hatte, geschweige denn sich davor fürchten, obwohl er ganz genau wusste, dass er mit Augen wie Blutopferschalen umherschreiten und aus dem Gaffen nicht mehr hätte herauskommen dürfen.
Aber Froh resignierte nur noch und bekam weniger denn je mit, was Chita ihm erzählte. Und auch das belastete ihn nicht ernsthaft. Sie widersprach sich ohnehin ständig. Erst war ihr ihr älterer Bruder das Größte und Liebste auf der ganzen Welt, dann watschelte sie ihrem jungen Liebhaber ohne Sinn und Verstand nach, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an ihr Zuhause und ihre Familie zu vergeuden. Dabei war ihr Bruder dem Tod doch längst näher gewesen als dem Leben, oder hatte er da etwas falsch verstanden? Und nach allem, was sie selbst über ihre vermeintlich genialen, eigenartigen Medizinmänner ohne Götter (und darum auch ohne Gewissen) in Erfahrung gebracht hatte, hätte sie sich doch mehr denn je um ihn sorgen müssen, oder?
Raupen im Kopf … Oft, wenn sie von Liebe redete, meinte sie nur Verlangen. Die Liebe an sich ließ den Teil des Körpers, den man gemeinhin unter einem Rock oder einem Lendenschurz verbarg, zumeist ganz außer acht. Sie verbrannte einem nur das Herz.
Wie wenig musste ein Mensch von der Liebe verstehen, um so zu denken, zu reden und zu fühlen? Chita verstand noch nicht einmal den Unterschied zwischen einer Mutter und einer Amme! Und: Wie überlebte man eigentlich in jedwedem sozialen Gefüge, wenn man nicht einmal den Hauch von Empathie für seine Mitmenschen aufbrachte? Lief man da nicht ständig Gefahr, aus einem bloßen Missverständnis heraus erschlagen zu werden? Schließlich konnte nicht jeder, den ihr Weg kreuzte, etwas vom Opferfelsen gestohlen haben und in ihr eine Herausforderung, eine Aufgabe oder was auch immer sehen, was ihn davon abhielt, ihr sehr schnell wieder den Rücken zuzukehren oder gar den Hals umzudrehen. Auch solche Menschen gab es zur Genüge, das wusste Froh. Der Sippe der Krocken, die hinter Vulkas Berg lebte, musste man nur zur falschen Tageszeit einen guten Morgen wünschen, um prompt einen Zahn oder ein Haarbüschel mit etwas Kopfhaut zu verlieren; und das, obwohl auch die Krocken an die Götter glaubten. Sie interpretierten die Regeln nur …
Nun ja. Alternativ .
Froh war hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Verachtung. Aber auch Verachtung war eine Sünde, sofern man sie gegenüber anderen Menschen empfand, und man musste noch nicht einmal gläubig
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