Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Schnodderzapfen positionierte. Sein Gesicht war bis auf die Augen unter einem wollenen Schal verborgen. Ich registrierte, dass seine Hand bereits auf dem Knauf seines Schwerts ruhte und drückte meinen Welpen ein bisschen fester an meine Brust. Ich ahnte, dass es nicht gutgehen würde.
Aber ich hätte mir keine Vorstellung davon machen können, wie schlimm es tatsächlich werden sollte. Denn bevor Kratt irgendeine Lüge auspacken konnte, befreite der zweite Mann sein Gesicht von der verwebten grauen Wolle und bedachte ihn mit einem verächtlichen Lächeln.
»Netter Versuch, Kratt«, spottete er und zog sein Schwert – genau wie die fünf anderen Krieger, die sich dazu veranlasst sahen, ebenfalls zu den Waffen zu greifen und entschlossen auf uns zuzuschreiten. Ich versteifte mich auf dem Rücken meines Pferdes, als ich eisiges Metall auf der kalten Haut verspürte. Und zwar gleich unter dem rechten Auge, auf das Schnodderzapfen die Spitze seines Zweihandschwerts richtete.
Ich schloss die Augen, versuchte ruhig zu atmen und zählte in Gedanken von zehn aus rückwärts. Gleich, so dachte ich, würde alles ganz schnell gehen. Kratt und Mikkoka würden diese Männer binnen eines halben Lidschlags hoffnungslos mit den Kriegern auf der Mauer verknoten und an einem Marterpfahl aus ihren eigenen Waffen befestigen. Ihre Mäntel würden die wehenden Fahnen sein, mit denen wir lachend das Stadttor passierten, und dann …
Weiter kam ich nicht, denn plötzlich fühlte ich noch etwas Kaltes, Hartes auf der Haut. Erschrocken riss ich die Augen auf und schielte auf das, was Anna mir auf einmal von rechts gegen die Stirn drückte.
Es war ein Kugelpuffer.
Mir stockte der Atem, und mein Beutelwölfchen winselte leise.
»Du willst uns damit drohen, deine eigenen Speichellecker aus dem Sattel zu schießen?«, staunte der Mann, der Kratt erkannt hatte. »Du hast nachgelassen, seit wir uns zuletzt begegnet sind, mein Freund.«
»Spricht einer, der einst der Leibwache des Faros angehörte«, spottete Kratt so gelassen, dass ich daran zu zweifeln begann, dass er je ernsthaft geplant hatte, mich als vermeintlich befreites Faronenkind in der Obhut dreier vermeintlicher Krieger nach Norgal zu bringen. In meinen Ohren klang es jedenfalls, als sei bislang alles ideal verlaufen und als bestünde nach wie vor kein Grund zur Sorge. Aber vielleicht war er auch nur ein grandioser Schauspieler. Ich weiß es bis heute nicht mit Sicherheit.
»Man muss schon sehr tief fallen, um von der Leibwache Rah Loros in die Stadtwache Norgals versetzt zu werden, oder?«, setzte Kratt belustigt nach. »Was hast du getan, Nanto? Hast du den Hofhund bestiegen? Übrigens: Erinnerst du dich an das stinkende, kreischende Bündel, das Hohenheim zu unserer Zeit vom Morgengrauen bis in die tiefste Nacht terrorisierte?«
Ungeachtet der rasiermesserscharfen Klinge, die Nanto direkt auf seinen Hals richtete, machte Kratt eine halbe Drehung und deutete mit einer feierlichen Geste auf mich.
»Da sitzt es«, verkündete er lächelnd. »Aber nicht mehr lange, wenn du deine unterbezahlte Gefolgschaft nicht zügig in ihre Schranken weist. Denn unsere süße Anna wünscht sich ohnehin nichts mehr, als der kleinen Jamachita das Eiweiß durch die Ohren zu blasen.« Er wand sich an der Schwertspitze vorbei und hob die Hand ans Kinn, als wollte er flüstern, sprach dann aber doch so laut, dass ihn jeder genau verstand. »Weißt du«, erklärte er im Verschwörerton, »sie hat ihr den Kerl ausgespannt …«
»Du hast nicht nur nachgelassen, du bist auch nicht mehr auf dem neuesten Stand, was das Leben außerhalb deiner rattenverpesteten Schlupflöcher betrifft«, erwiderte Nanto und schob Kratt mit der Waffe einen halben Schritt zurück. »Jamachita Mirano Kantamar ist tot. Sie starb bei dem Beben, das Silberfels zerstörte. Möchtest du deinen Abtrünnigen noch raten, keinen Widerstand zu leisten, damit sie eine Chance auf ein gerechtes Urteil bekommen, oder soll ich dich gleich jetzt enthaupten? Rah Loro hat zwanzigtausend Münzen auf deinen verlausten Kopf ausgesetzt. Und du hast ganz recht: Unser Sold hier lässt keine allzu großen Sprünge zu. Und meine Kinder wünschen sich eine Chimäre.«
»Ein rattenschwänziges Hausschwein, das sie immer an ihren Vater erinnert, wenn er im Dienst ist?«, riet Kratt belustigt, hob aber besänftigend die Hand, als Nantos Schwert sein Kinn ruckartig ein Stück anhob. »Schon gut. Nur ein kleiner Scherz unter alten Freunden … Um zum
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