Das Mädchen aus dem Meer: Roman
ich fragte mich – und fürchtete mich davor –, was sich alles in diesen finsteren Wäldern verbergen mochte.
Es dauerte eine Weile, ehe ich verstand, wie die Menschen in diesem Teil des Landes lebten. Ich sah keine Pfahlbauten mehr, und erst recht keine richtigen Häuser, geschweige denn eine Siedlung. Aber irgendwann klatschte etwas gleich neben unserem Boot ins Wasser. Ein abgenagter Knochen nämlich, und weil er zumindest von einem Büffel, wenn nicht von einem noch größeren Tier stammen musste und geradewegs an meiner Schulter vorbeigeflogen war, legte ich den Kopf in den Nacken, sobald ich aufgehört hatte, vor Schreck zu quietschen, und erspähte ein Baumhaus sehr weit über dem Bach. Strickleitern und Lianen hingen von einer Art Terrasse vor dem hölzernen Haus herunter, und darauf hockten ein paar Kinder, die umso vergnügter kicherten und einen weiteren Knochen nach uns warfen, als einer der Krieger, die uns begleiteten, ihnen mit der geballten Faust drohte. Dieses Mal war es der Schädel eines Affen, und er traf einen unserer Bootsmänner am Hinterkopf. Der Mann gab die Ruder an Golondrin ab, und die Kinder stellten das Lachen ein und zogen sich rasch in das große, aber gut getarnte Baumhaus zurück.
Nun, da ich wusste, worauf ich achten musste, erspähte ich diese Häuser überall in den Baumkronen. Einige waren so schlicht und winzig, dass sich selbst ein Zwerg kaum darin hätte ausstrecken, geschweige denn aufrichten können. Aber die meisten waren weitläufig genug, um zumindest kleinere Familien beherbergen zu können. Nicht wenige verfügten über mehrere Etagen oder zwei oder drei Räume, die über schmale Stege in schwindelnden Höhen miteinander verbunden waren. Und mindestens zweimal durchquerten wir richtige Dörfer, deren eigenwilligen Behausungen über stabile Hängebrücken miteinander verbunden waren.
Menschen hangelten sich leise wie Katzen und geschickt wie Primaten durch die Baumkronen oder huschten über die Brücken, die zwar immer wieder bedrohlich knirschten, unter den leichtfüßigen Schritten dieser Baummenschen aber kaum schwankten. Manchmal kletterten Kinder dicht über unseren Köpfen durch das Geäst, um uns neugierig zu beäugen oder auch zu bespucken und dann binnen eines Lidschlags wie Schatten mit dem Dickicht zu verschmelzen. Gormos Krieger schienen sich keines großen Respekts unter den Einheimischen zu erfreuen, und ich rückte immer dichter an Cocha heran und erwartete, dass er mir die Dinge erklärte. Doch seiner Mimik nach zu urteilen, hatte auch er sich die Wälder Montanias ganz anders vorgestellt.
Einmal trieb eine brennende Leiche direkt auf das vordere Boot zu, was mich zusätzlich überraschte und beängstigte. Auch wir verbrennen unsere Toten oder versenken sie im Meer. Verwesende Leichen sind keine schöne Sache, und vor allem locken sie Ratten, Mäuse und Ungeziefer an. Aber das hier, begriff ich sofort, war Teil eines Rituals, eines Totenkults, denn die Leiche war auf eine Schilfmatte gebunden worden, und aus irgendeinem Grunde hatte man sie enthauptet und einen Frischling und einen Krug am Kopfende der schwimmenden Bahre festgebunden. Die Menschen in den Bäumen lebten nicht nur wie Primaten, erkannte ich voller Schreck und Abscheu, während unsere Krieger die brennende Matte mit Stöcken ins Ungleichgewicht brachten, damit sie kippte und sank: Sie waren Primitive. Ungebildete Wilde, die zur Spiritualität neigten. Wahrscheinlich konnten sie nicht einmal lesen und schreiben!
Das hier sollte Montania sein? Der Staat, der es wegen besserer Handelsbedingungen auf einen Krieg ankommen ließ – und zwar nicht nur gegen meinen Vater, sondern gegen den ganzen cyprischen Kontinent? Dieser Gormo musste vom Größenwahn befallen oder ein Simpel sein, dass er es überhaupt wagte, mit meinem Vater zu verhandeln! Was wollte er denn machen, wenn mein Vater seine Kriegsmanas über sein Wäldchen jagte? Wollte er sie auch mit Tierknochen und Stöcken bewerfen? Oder war er letzten Endes sogar selbst der Spiritualität verfallen und bildete sich ein, er könnte die Truppen der anderen auf irgendeine Weise in die Flucht beten, singen oder tanzen?
Ich will dich nicht beleidigen, Froh. Inzwischen finde ich es nicht mehr so schlimm, wenn jemand glaubt. Man lernt ja immer dazu – sogar ich. Und abgesehen davon, dass du dich deswegen umbringen wolltest, scheint dein Glaube dir ja tatsächlich mehr zu nutzen, als er dir schadet. Aber wenn Hunderte von Manas mit
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