Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Triumphstelze anbelangt: Mir ist auch nichts passiert, ich habe mich nicht verletzt. Aber das war wirklich nur Glück. Als ich verstand, was passiert war, lag ich ja schon im glücklicherweise weichen Moos, und als ich mich ächzend auf den Rücken drehte, war mal wieder eine Waffe mitten auf mein Gesicht gerichtet. Genau hier, über der Nasenwurzel, zwischen den Brauen.
Der Abwechslung halber war es dieses Mal die rasiermesserscharfe Spitze eines Bolzens. Und der Blick des Kriegers, der seine Armbrust aus nächster Nähe auf mich gerichtet hielt, war auch nicht eben stumpf. Er beobachtete mich so aufmerksam mit dem gekrümmten Finger am Abzug, dass ich es kaum wagte zu atmen, während ich zu ihm hinaufblickte. Seine Waffe und das dunkle Violett seines Mantels wiesen ihn als Krieger Gormos aus. Aber das war auch alles, was ihn von einem Wilden unterschied.
Seine Füße steckten in wadenhohen Stiefeln aus Mammut- oder Büffelfell, aber seine dicht behaarten Beine waren der Eiseskälte zum Trotz völlig nackt. Einzig ein sehr knapp bemessener Lederrock bedeckte seine Scham. Allerdings nur von vorne betrachtet, und ich lag ihm ungünstigerweise zu Füßen, was mich plötzlich eher beschämte als verängstigte. Auch seine Brust war nackt, sodass sie den Blick auf eine riesige Tätowierung erlaubte, die einen Lemuren mit abstrakt großen Augen darstellte. Sein langes schwarzes Haar hatte er zu einem Knoten gebunden, in den zahllose Holzperlen und Muscheln eingeflochten waren, und an einer Kette um den Hals trug er Haifischzähne, genau wie Kratt.
Und noch etwas anderes verband ihn mit unserem Anführer: der Schrumpfkopf an seinem Gürtel. Ich bin bislang noch gar nicht darauf eingegangen, aber mir war natürlich längst aufgefallen, dass Kratts Schrumpfkopf der einer Frau war. Bis dahin hatte ich gedacht, dass das nur eine besondere Macke von ihm war. Eine unausgesprochene Drohung, die er immer am Körper trug, frei nach dem Motto: Schaut her, wenn es unbedingt sein muss, töte ich auch Frauen …
Jetzt aber sah ich an jedem der insgesamt zehn oder elf fast nackten, großflächig tätowierten Krieger, die wie aus dem Nichts am Ufer erschienen, uns umzingelten und die unterschiedlichsten Mordinstrumente auf uns richteten, einen solchen Schrumpfkopf, und wenn mich nicht alles täuschte, stammten sie alle von Frauen. Manche hatten sogar zwei bei sich, bloß einer hatte keine, und obwohl mein Leben wieder einmal direkt bedroht wurde, fragte ich mich, ob ich es hier nicht mit etwas ganz anderem als einer symbolischen Drohung zu tun hatte. Mit etwas Spirituellem, das ich nicht verstand und das mich darum viel mehr verängstigte als all die tödlichen Waffen.
Mit dieser Einschätzung lag ich ganz richtig, doch die Erklärung lieferte mir erst – du wirst es nicht glauben – Markannesch!
»Herzlich willkommen in Montania, Jamachita Milano Kantamar, die Erste«, hörte ich seine vertraute und doch schon fast vergessene raue Stimme und blinzelte verwirrt in die Richtung, aus der ich sie vernommen hatte. Weil ich immer noch auf dem Rücken lag und zunächst nur behaarte Männerbeine in Fellstiefeln sah, dachte ich schon, ich hätte mich getäuscht und bloß jemanden gehört, der eine ähnliche Stimme hatte. Aber es war wirklich Markannesch, der sich nun zwischen zweien der Männer hindurchzwängte und mir eine Hand entgegenstreckte, um mir beim Aufstehen zu helfen – der greise Lehrmeister, mit dem mein Bruder jahrelang für einen Mangel gestraft worden war, für den er nichts konnte. Der schusselige, schrumpelige Alte, der kaum zwei zusammenhängende Sätze sprechen und Schlachtrösser nicht von Maultieren unterscheiden konnte. Der Mann, der niemals einen Sold für die Arbeit verlangte, die zu leisten er ohnehin nicht in der Lage war!
Ich konnte einfach nicht glauben, ihn ausgerechnet hier, im wilden, wüsten und vor allem feindlichen Land wiederzutreffen, obwohl ich ihm direkt in das faltige Gesicht schaute, sobald der Armbrustbolzen endlich samt der Waffe und des grobschlächtigen Kriegers mit dem Schrumpfkopf und den Haifischzähnen aus meinem Blickfeld verschwunden war, und brachte es darum nicht fertig, nach der trockenen alten Hand zu greifen, die er mir helfend entgegenstreckte. Stattdessen blinzelte ich sprachlos zu ihm hinauf. Ja, ich war wirklich sprachlos. Und das hat etwas zu bedeuten, Froh, das kannst du mir glauben!
Und um das Bild des Unfassbaren abzurunden, war Markannesch nicht allein gekommen. An seiner
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