Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Tausenden von Widerhakenkugeln über deinem Kopf schweben, solltest du nicht beten, sondern alles tun, was der, dem die Manas gehören, von dir verlangt. Insbesondere dann, wenn du ein ganzes Volk zu beschützen hast. Auch, wenn dieses Volk aus stumpfsinnigen Analphabeten besteht, die auf Bäumen leben.
Ich dachte, dass dies das Erste sein würde, was ich aussprechen wollte, sobald wir Gormos Burg endlich erreichten. Aber natürlich kam wieder alles ganz anders.
Zunächst einmal hatte ich mir auch die Burg des Faros von Montania völlig anders vorgestellt. Ich meine: Wenn jemand von einer Motte spricht, denke ich an eine Wasserburg, und wenn ich an eine Wasserburg denke, dann stelle ich mir ein imposantes, wuchtiges Gemäuer auf einer künstlichen Erhöhung in einem Moor vor. Meterdicke Mauern, Zinnen, hinter denen Krieger patrouillieren, Wohn- und Wehrtürme und Fähnchen, die stolz das Wappen des Faros in den Wind recken, oder?
Tja. Als die Krieger uns schließlich unwillig mitteilten, dass wir unser Ziel erreicht hätten, sah ich immerhin das Moor. Der Wald hatte sich vor uns aufgetan. Der schmale Wasserlauf mündete in ein weitläufiges, seichtes, schlammiges Gewässer, aus dem überall träge, dicke Blasen aufstiegen, denen übel riechende Gase entwichen, sobald sie an der Oberfläche zerplatzten. Eine Schar riesiger Wasservögel, groß wie Kamele und hässlicher als Stotterer, wateten auf unsinnig langen, viel zu dünnen Beinen durch den Sumpf, bedachten uns kurz mit gelangweilten Blicken und wühlten dann weiter nach Schnecken, Amphibien und winzigen, silbernen Fischen. Von einer Burg war weit und breit nichts zu sehen. Es gab nicht einmal ein Baumhaus, und im ersten Augenblick war ich darauf gefasst, dass die beiden Bootsmänner und die zwei Krieger uns aus einem einzigen Grund hierhergebracht hatten: um uns in einem Überraschungsangriff über Bord zu schmeißen, auf dass wir elendig im Moor verreckten.
Aber als einer der Bootsmänner einen schrillen Pfiff ausstieß, ließen die Vögel davon ab, nach glitschigen Kleintieren zu wühlen, und trotteten gemächlich zu uns hin.
»Weiter kommen wir nicht heran«, erklärte einer der Krieger knapp. »Das Wasser ist nicht tief genug, und es gibt keinen Weg und keine Brücke. Ihr müsst reiten.«
»Ich weiß«, erwiderte Kratt gelassen und schüttete Pulver und Munition des Kugelpuffers in den Tümpel, während ich noch zu verarbeiten versuchte, was dieser Mann uns gerade verkündet hatte. Wir sollten reiten? Auf Vögeln, deren Beine zu dünn schienen, um ihr eigenes Gewicht zu tragen? Das konnte nicht sein Ernst sein!
War es aber. Erst jetzt, da die Viecher so nahe heran waren, erkannte ich die ledernen Riemen, die um ihre Köpfe gebunden waren. Zügel, so dünn wie Stiefelbänder, baumelten auf ihre buckeligen Rücken hinab. Sättel, geschweige denn Steigbügel, gab es keine.
Ich stieß Cocha einen Ellbogen in die Seite. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?«, erkundigte ich mich. »Diese Leute wollen uns doch wohl nicht weismachen, dass Gormo seine Burg nur auf … auf Riesenstörchen erreichen und verlassen kann!«
»Es sind Triumphstelzen«, antwortete unser Bootsmann hörbar gekränkt und winkte eines der Tiere so dicht an unser Boot, dass der Gestank seines versifften Gefieders meine Nasenschleimhäute verätzte.
Der Riesenvogel hörte besser als jeder Hofhund und knickte seine stockähnlichen Beine sogar unaufgefordert ein, um irgendjemanden aufsitzen zu lassen. Da alle Blicke in unserem Boot auf mich gerichtet waren, keimte der böse Verdacht in mir auf, dass ausgerechnet ich die Erste sein sollte. Selbstverständlich, ich war ja die einzige Frau im Boot, denn Mikkoka saß bei den Männern vorne, und auch ihr wurde die Ehre der ersten Triumphstelze zuteil, was ihr aber nichts auszumachen schien. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich versteifte mich und hielt die Luft an.
»Im Übrigen hast du natürlich recht: Gormo benutzt in aller Regel den nördlichen Zugang zur Burg. Wie jeder andere vernunftbegabte Mensch auch«, setzte der Bootsmann hinzu, während Cocha mich mit sanfter Gewalt auf die Füße stellte. Das Boot schwankte unter mir, und ich rang um mein Gleichgewicht.
»Und warum …«, begann ich, aber nun war es Cocha, der antwortete: »Weil das einen Umweg von mehr als zwei Tagesreisen durch die Wälder bedeutet hätte.«
Er packte mich unter den Schultern, und im Nu fand ich mich auf dem krummen Rücken des stinkenden Vogelviehs wieder. Unter
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