Das Mädchen aus dem Meer: Roman
erwiderte ich zornig, wobei ich vergebens versuchte, an seiner knochigen Schulter vorbeizusehen. »Vergiss es, Markannesch. Ich will es gar nicht hören. Du bist ein Verräter und ein Kindesräuber. Außerdem hilfst du Gormo, auch mich hier festzuhalten, und ich schätze, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch Sora auf einmal hier auftaucht – sei es durch eine List oder mit Gewalt geholt. Es gibt keine Entschuldigung für das, was du getan hast, und darum kannst du jetzt auch einfach den Weg freigeben. Ich will nicht mit dir reden.«
»Niemand hält dich hier fest«, antwortete Markannesch, schob mich aber mit sanfter Gewalt auf die oberste Ebene zurück und nickte in Richtung der Kammer, die Cocha gerade wutentbrannt verlassen hatte. »Es liegt mir fern, Loros Kindern zu schaden, denn in den Kindern der Faronen liegt die Hoffnung Cyprias. Du bist freiwillig hierhergekommen und kannst auch wieder gehen, wenn du möchtest. Oder siehst du irgendwo Riegel, Schlösser oder Wächter?«
»Nein. Aber ich bin nicht naiv genug, um mir vorzumachen, dass das etwas zu bedeuten hätte«, gab ich zurück. Ich glaubte dem Alten kein Wort. Nach unserem nicht eben freundlichen Empfang auf der Lichtung waren Cocha und ich auf dem Weg durch die Pyramide und in die Kammer hinein immerhin von gleich vier Lemurenkriegern begleitet worden, die sich aber offenbar zurückgezogen hatten, sobald die Tür hinter uns zugefallen war. »Vermutlich haben sich Gormos Barbaren hier oben gelangweilt und sitzen jetzt unten vor diesem primitiven Steinklotz, um ein paar Jungfrauen zu verspeisen«, spekulierte ich wütend.
Markannesch lachte auf, und dieses Lachen hatte überhaupt nichts mehr mit dem senilen Gekicher zu tun, das ich aus Hohenheim von ihm kannte. Aber sein schrumpeliger Leib schien ohnehin das Einzige zu sein, was noch zu Soras altem Lehrmeister gehörte. Der Markannesch, den ich in Montania antraf, war ein Fremder mit dem Gesicht eines Vertrauten.
»Du spielst auf die Schrumpfköpfe an ihren Gürteln an, nicht wahr?«, riet er nun. »Das hat rein traditionelle Gründe – sie beruhen auf einer alten Religion, an die niemand mehr so recht glaubt, die aber überall ihre Spuren hinterlassen hat«, behauptete er, schob mich vollends in die Kammer zurück und zog die Tür hinter uns zu. »Nicht zuletzt ist das Totenfest seit eh und je mit Rauchwaren und Glitzerwasser verbunden. Schau nicht so entsetzt: Das eine ist hier ebenso erlaubt wie das andere. Nicht, dass ich es gutheiße, aber die Menschen aus den Wäldern lassen sich eben nichts verbieten. Sie leben nach ihren eigenen Regeln, und die ändern sich auch noch von Baum zu Baum. Es gibt hier zahllose kleine Stämme, die sich untereinander unentwegt die Schädel einschlagen, mit mir aber zumeist zurechtkommen …
Viele von ihnen verdingen sich als Krieger – insbesondere die Männer des Lemurenstammes sind unersetzlich für das cyprische Montania. Wie auch immer«, winkte er ab, während er sich auf eine Kante eines der beiden Betten im Raum sinken ließ und auffordernd das Laken tätschelte, als erwartete er tatsächlich, dass ich mich neben ihn setzte wie neben einen guten alten Freund.
Ich rümpfte die Nase. »Und während sie saufen und rauchen, trennen sie den Frauen ihrer Feinde die Köpfe ab«, ergänzte ich seine Ausführungen verächtlich. »Du bist in bester Gesellschaft, Markannesch. Auch du musst eine Menge Glitzerwasser in dich hineingeschüttet haben, um alle Loyalität zu deinem Herrn zu verlieren.«
»Während sie trinken, trennen sie den Verstorbenen, derenthalben sie das Totenfest feiern, die Köpfe ab, um sie zu präparieren und in Ehren zu halten«, verbesserte mich Markannesch gelassen. »Sie tragen ihre Mütter, Großmütter, Schwestern, Töchter und Frauen an den Gürteln, um zu symbolisieren, dass sie auf eine gewisse Weise immer bei ihnen bleiben. Frauen genießen hohes Ansehen und großen Respekt in den Sümpfen Montanias, weißt du? Die Köpfe der verstorbenen Männer hingegen schützen sozusagen ihre Häuser – glücklicherweise von innen. Schließlich sind die Wälder auch so schon unheimlich genug; besonders, wenn Nebel über den Mooren hängt …« Er winkte ab. »Auf den ersten Blick mag dir manches befremdlich erscheinen. Vielleicht sogar barbarisch. Aber wenn du die Dinge hinterfragst, wirst du immer wieder überrascht sein, wie ehrbar und edel unsere vermeintlich Wilden tatsächlich sind.«
»Wer ist die Frau an Kratts Gürtel,
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