Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Irgendwann kam meine Mutter zu mir und ließ sich auf der Bettkante nieder. Sie streichelte meine Stirn, aber ich sah sie nicht an. Ich konnte sie nicht ansehen, denn ich war fast so enttäuscht von ihr wie von meinem Vater.«
»Weil sie deinen Bruder nicht geschützt hat?«, riet Froh.
»Ja. In diesem Moment war sie für mich kaum weniger schuldig als mein Vater. Es ist nicht so, dass wir nie Unsinn getrieben hätten. Im Gegenteil: Nur zu oft haben wir uns dabei erwischen lassen, wie wir irgendetwas anstellten, das nicht erlaubt oder respektlos war. Und wir sind oft bestraft worden, nur nie im Thronsaal. Immer waren wir bereit, die Konsequenzen für unsere Vergehen zu tragen«, erklärte Chita. »Oft haben wir uns vor der Strafe gefürchtet. Aber letztlich haben wir nie gejammert, nachdem wir sie erfahren hatten.«
»Haben sie euch oft geschlagen?«
»Nein«, antwortete Chita. »Aber auch nicht nie. Es war in Ordnung für uns. Unsere Eltern waren streng, aber gerecht.«
Sie hatte ihre Beherrschung gänzlich zurückerlangt, ihre Stimme klang wieder fest, ihre Worte gut überlegt. Sie kniff die Augen zu aufmerksamen Halbmonden zusammen und versuchte so angestrengt wie vergebens, irgendetwas am Horizont zu erkennen. Aber da war nichts.
Zum Glück, dachte Froh. Nach wie vor befürchtete er, den Zorn eines nackten, sehr unentspannten Meeresgottes auf sich zu ziehen, weil er den Forderungen der Fremden nachkam, die Ivi ihr doch selbst gesandt hatte. Er saß ganz schön in der Zwickmühle, fand er. Schließlich griff er resignierend wieder nach den Paddeln.
»Aber es war auch nie so heftig wie an diesem Tag«, fügte Chita hinzu und lehnte sich wieder ins Heck. Sie deutete auf die Paddel. »Soll ich dich jetzt ablösen? Ich glaube, ich bin wieder halbwegs bei Kräften.«
Froh verneinte. »Erzähl du nur weiter«, forderte er sie auf. »Ich mag den Klang deiner Stimme. Und ich will mehr von dir erfahren. Außerdem wüsste ich gern, was mit dem Knallfischer geschehen ist.«
»Meine Mutter hatte eine kleine Flöte mitgebracht«, berichtete Chita. »Nachdem sie eine Weile schweigend neben mir gesessen hatte, zog sie sie hervor. Hommijr sagt, ihr Klang vertreibt das Pfeifen aus deinen Ohren , erklärte sie. Dann spielte sie eine Melodie. Wäre ich nicht so wütend gewesen, hätte ich ihr gesagt, dass ich nicht gewusst hatte, dass sie so musikalisch war, und dass das, was sie dieser winzigen Tonflöte entlockte, ganz wunderbar und fast so schön klang wie die Melodie aus dem Riff. Aber ich war eben wütend. Und das bescheuerte Pfeifen blieb auch.«
»Ist es immer noch da?«, erkundigte sich Froh.
»Irgendwann gab meine Mutter ihre Versuche, sich mir auf die eine oder andere Weise zu nähern und ein Gespräch mit mir zu beginnen, auf und legte die Flöte in meinen Schoß«, sagte Chita. »Weil ich nicht reagierte, nahm sie meine Finger und umschloss das Instrument damit. Spiele sie selbst , sagte sie und stand auf. Doch ehe sie mein Zimmer wirklich verließ, wandte sie sich mir noch einmal zu. Ich weiß, du willst nicht mit mir sprechen, und ich verstehe, dass du zornig, traurig und enttäuscht bist , flüsterte sie. Vielleicht wirst du das alles eines Tages begreifen. Bis dahin kann ich dich nur bitten, deinem Vater zu verzeihen.
Eigentlich wollte ich trotzig weiterschweigen, aber dann war da wieder die Sache mit meiner Stimme, die mir einfach nie gehorchte …
Wenn er das … Wenn er so mit Sora umgegangen ist , verlangte ich zu wissen, was ist dann mit dem Fischer passiert? «
Froh hob die Brauen. Endlich, so schien es, beantwortete sie seine Frage. »Was hat sie gesagt?«, fragte er.
»Sie sagte: Was glaubst du, was mit ihm passiert? Und ich antwortete: Ich glaube, dass er ihn verbrennen lässt .
Eine gute und gerechte Strafe , antwortete meine Mutter ernst. Für jemanden, der eine paar Rinder gestohlen hat …
Aber er hat keine … , begann ich, doch meine Mutter fiel mir ins Wort.
Ruh dich jetzt aus, bestimmte sie. Und hab Vertrauen. Er wird seinen Irrtum schon noch begreifen. Und dann wird er Buße tun, denn er ist ein weiser Mann. Er regiert ein ganzes Volk, vergiss das nicht . Eigentlich weiß er sehr gut, was gut und richtig ist.
Und damit verließ sie mein Zimmer und verriegelte die Tür. Ich fühlte mich genauso schlecht wie zuvor, vielleicht sogar noch schlechter, und ich hätte meine rechte Hand dafür gegeben, mit Sora sprechen zu dürfen.
Doch die kommenden Tage verbrachte ich eingesperrt in
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