Das Mädchen aus dem Meer: Roman
frühen Abend zurückkehrte, um nachzusehen, wie weit ich mit der Kopie gekommen war, schenkte er meiner Dichtkunst auf dem Schiefer nicht die geringste Beachtung. Er lugte nur durch den Türspalt, registrierte, dass ich nicht einmal angefangen hatte, und schloss mich schulterzuckend wieder ein. Er ließ mir nicht einmal einen Becher Wasser da!
Ich hatte Hunger und Durst und hätte schon mehrere Male in die dünnen Hosen machen müssen, die ich unter meinem Kleid trug, wenn ich mich nicht für den Eimer entschieden hätte, in dem Moijos riesiger Tafelzirkel und das armlange Lineal auf ihren Einsatz harrten. Beides stellte ich hinterher wieder hinein. Ich war sehr frustriert, und tatsächlich übernachtete ich im Lernzimmer.
Hatte es denn kein Fenster?
Doch, sicher. Eine ganze Wand aus Glas sogar, in der es eine Aussparung gab, die sich öffnen ließ. Ich sagte doch, ich habe nach den Wachen geschrien, die einfach weiterpatrouillierten, als gäbe es mich überhaupt nicht. Doch mit Ausnahme jener Fenster, die nach oben ausgerichtet waren und sich nicht öffnen ließen, waren sämtliche Fenster und Glaswände des Palasts vergittert.
Am Morgen kehrte Moijo zurück – wieder ohne Brot und Wasser –, und das ganze Spiel begann von vorne. Doch irgendwann kapitulierte ich vor der Aussichtslosigkeit der Lage und fing an zu schreiben. Wort um Wort, Satz um Satz, Seite um Seite. Es war grausam, aber wenigstens schob er mir am Mittag einen Krug Wasser durch den Türspalt. Am Abend wurde ich mit einem Kanten Brot belohnt, und nach der zweiten Nacht war ich endlich fertig.
Moijo kam, verglich beide Texte sorgfältig und entließ mich erst aus meiner Gefangenschaft, als ich auch den letzten Fehler verbessert hatte. Also in der dritten Nacht.
Danach ließ ich ihn eine ganze Weile in Ruhe.
Verständlich.
Aber nur so lange, wie ich brauchte, um einen Racheplan zu entwickeln, der mich nicht eindeutig als Täter erkennen ließ. Mein Lehrmeister war zwar hart, aber auch sehr gerecht. Es war klar gewesen, dass ich hinter den angesägten Stuhlbeinen gesteckt hatte, denn außer mir wären nur meine Eltern und er selbst dafür in Betracht gekommen – es sei denn, ich hätte meinen Schlüssel verliehen oder verloren, was grob fahrlässig und gleichermaßen zu bestrafen gewesen wäre. Nur darum war Moijo so hart mit mir ins Gericht gegangen. Hätte er auch nur die geringsten Zweifel an meiner Schuld gehegt, so glaubte ich, und das bestätigte sich auch später, wäre ich gänzlich ungestraft davongekommen.
Als ich bald darauf Lauge vor seiner Zimmertür verschüttete, sodass er am nächsten Morgen darauf ausrutschte und sich den Hinterkopf am Türrahmen anschlug, tat ich es zu einer Zeit, zu der jede Magd, jeder Knecht und jedes andere Kind im Palast dafür infrage hätte kommen können. Und obwohl er wusste, dass nur ich einen Grund dafür hatte, ihn zu schikanieren, tat er nichts. Ich verabreichte seinem Pferd einen Saft aus süßen Trauben und Kräutern, von dem ich wusste, dass es ihm böse Verdauungsschwierigkeiten bescheren würde – aber auch das hätte jeder tun können, der Zugang zum Stall hatte. Ich urinierte auf seinen Waschlappen, als er schlief, und ich malte die Gläser seines Fernschauers schwarz an. Aber nichts passierte.
Irgendwann war meine Kreativität erschöpft, was aber nicht weiter schlimm war, denn ich hatte das Gefühl, dass wir quitt waren. Außerdem hatte ich meine Lektion gelernt.
Die wie lautete?
Du darfst alles tun. Du darfst dich nur nicht erwischen lassen.
Fortan kamen wir weitgehend miteinander aus, obwohl er mich im theoretischen Unterricht natürlich immer noch langweilte.
In der Praxis sah es ganz anders aus. Aber das lag nicht an Moijo, sondern an Carthun, dem Lehrmeister meines Bruders. Und natürlich an meinem Bruder selbst und den anderen Kindern, die uns, sofern die Umstände es erlaubten, ins Freie begleiteten und mit uns lernten.
Die anderen Kinder? Du hast noch mehr Geschwister?
Nein. Nur einen Bruder – was meinen Vater immer beschämt hat, denn in einem ganzen Jahrzehnt nur zwei Kinder zu zeugen … Nun. Das war wirklich keine große Leistung und außerdem ein Umstand, für den er von seinen politischen Verbündeten gern hochgenommen wurde.
Die anderen Kinder waren die Söhne und Töchter Carthuns, der mit seiner Familie in einem eigenen kleinen Haus auf dem Palastgelände wohnte, aber auch ein Stallbursche, die kleine Tochter der obersten Küchenmagd, der Neffe des
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