Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Jahre alt, aber stark und tapfer wie ein gestandener Krieger.
Als er ihn erreicht hatte, ergriff mein Vater ihn am Schopf und schleuderte ihn auf Montania. »Ist das alles, du Sohn eines herzkranken Esels? Ist das alles, du Kind der Pestilenz?«, brüllte er, während sich mein Bruder am Boden krümmte, aber keinen Laut von sich gab.
Ganz im Gegensatz zu mir, denn ich taumelte entsetzt zurück und wimmerte vor mich hin, als träte er in diesen Sekunden nicht nach Sora, sondern nach mir. Meine Mutter eilte zu mir hin, und ich verbarg mein Gesicht in ihrem Gewand und weinte und zitterte, während mein Vater weitertobte und wie von Sinnen auf meinen Bruder eindrosch.
»Es ist mir egal, ob du dich von den Wächtern erschießen lässt!«, schrie er, wobei er ihn von Montania nach Lijm und von Lijm aufs offene Meer hinaustrat. »Es ist mir gleich, ob du im Riff stecken bleibst und ersäufst – aber du hast das Leben meiner Tochter gefährdet, du unnützer Haufen organischer Abfall! Du hast zugelassen, dass sie sich schwer verletzt, du verfluchter … verdammter … stinkender … dreckiger …«
5
E rneut legte Froh seine Paddel beiseite, doch dieses Mal nicht, um sich auszuruhen, sondern um das Gesicht der Fremden behutsam in seine kräftigen Hände zu schließen. Sie hatte sich in Rage geredet, und es schien, als erlebte sie all das, wovon sie ihm erzählte, in diesen Augenblicken noch einmal, nur wahrscheinlich intensiver und ein wenig anders, als es sich tatsächlich abgespielt hatte. Es gab kein Land, das Cypria hieß, und auch von all den anderen Orten, die sie erwähnt hatte, hatte er noch nie etwas gehört. Froh glaubte ihr nicht und bemühte sich noch immer, ihre Geschichte, die ein Gleichnis sein musste, zu entschlüsseln.
Aber das bedeutete nicht, dass er nicht mit ihr fühlte. Irgendetwas war ihr widerfahren – etwas Schreckliches, dem sie nun in dieser verrückten Geschichte freien Lauf ließ. Ihre Worte mochten einen tieferen Sinn ergeben, den er noch nicht verstand; vielleicht waren sie sogar gelogen. Aber ihre Gefühle waren echt. Sanft streichelte er ihre heißen Wangen.
»Das hat er gesagt?«, fragte er mitfühlend, während er ihr mit dem Daumen eine Träne aus einem Augenwinkel wischte und so dicht an sie heranrückte, dass ihre Nasenspitzen einander beinahe berührten. Er versuchte, nicht zweifelnd zu klingen, aber es gelang ihm nicht ganz.
Chita presste die Lippen aufeinander und zog die Nase hoch, ehe sie ein Kopfschütteln andeutete.
»Nicht ganz«, gestand sie leise. »Aber ich bin sicher, dass er es gemeint hat. Vielleicht hat er sogar gar nichts gesagt. Vielleicht hat er nur wie ein Bär gebrüllt, als er auf meinen Bruder eindrosch. Nur Geräusche, keine Worte. Aber er hat ihn all den Hass spüren lassen, der in ihm schlummerte. Der neuerdings in ihm schlummerte, denn bis zu diesem Sommer hat er uns immer gleich behandelt. Und vor allem gleichermaßen geliebt. Es war Soras Geheimnis, das ihn so sehr in Aufruhr versetzte, nicht unser Vergehen. Und natürlich das Geheimnis meiner Eltern, von dem nicht einmal mein Bruder etwas ahnte. Aber das wusste ich damals noch nicht. Und selbst heute, da ich es weiß …« Sie zuckte die Schultern. »Das macht es nicht besser, weißt du? Er ist sein Sohn.«
Froh reichte ihr den Krug. »Was geschah mit dem Fischer?«, fragte er. Er war selbst ein Fischer, und auch er hatte einen großen Fehler gemacht. Bestimmt war dieser Teil des Gleichnisses besonders wichtig.
»Es ist nur noch ein einziger Schluck darin«, bemerkte Chita mit Blick auf den Krug.
»Nimm nur.«
Sie leerte den Krug und legte den Kopf in den Nacken. »Es ist schon fast dunkel«, stellte sie fest. »Aber ich kann noch keine Sterne sehen. Trotzdem … Es kann nicht mehr weit sein.«
»Was geschah mit dem Fischer?«, wiederholte Froh ruhig.
Chita wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf.
»Das Pfeifen war immer noch in meinen Ohren«, berichtete sie anstelle einer Antwort. »Während er schrie und fluchte und nach meinem Bruder trat, während meine Mutter mich mit sanfter Gewalt aus dem Gerichtssaal führte und meinem Lehrmeister übergab, während Moijo mich in mein Zimmer brachte und die Tür hinter mir verschloss …
Das Pfeifen blieb den ganzen Tag. Ich lag auf meinem Bett, blickte an meinem kleinen Sonnensystem vorbei durch das Glas an der Decke, beobachtete, wie der Wind die Wolken über den Himmel schob und die Nacht den Tag ablöste, weinte und lauschte dem Pfeifen.
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