Das Mädchen aus dem Meer: Roman
gewickelt war, hielt dieses Polster an seinem Platz.
Meine Mutter saß neben meinem Vater auf ihrem etwas weniger wuchtigen, aber ebenso reich verzierten Thron, und wie sie da so mit aller Strenge auf uns herabblickten, wirkten sie überhaupt nicht mehr wie unsere Eltern, sondern wie das, was sie für alle anderen Leute waren: Rah Loro der Zwölfte und Mirano Nijma Kantamar, Faro und Faronin von Ljim und Jama, Herrscher und Herrscherin über Hunderttausende von Menschen, Befehlshaber und Befehlshaberin über die zahlenmäßig mächtigste Armee des ganzen Kontinents und direkte Nachkommen Rah Loros des Sechsten, unter dem die Cyprier das Fliegen lernten.
Sie trugen ihr Gerichtsgewand – bodenlange weiße Kleider und prächtigen Kopfschmuck aus Gold und weißen Federn, denn Weiß ist die Farbe der Gerechtigkeit. Der Saal war mit Gaben von Primitiven bestückt, die schlicht zu hübsch waren, um die Edelsteine, Schnitzereien aus Elfenbein und andere wertvolle Teile herauszubrechen und den Rest einzuschmelzen. Die Wände waren nur so übersät mit Muscheln, Korallen, Halbedelsteinen und farbenfrohen Schalentieren, und der Boden war mit einem Mosaik bedeckt, das den Kontinent Cypria und seine Inselstaaten darstellte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich den Saal betrat. Wenn die Erwachsenen miteinander verhandelten und diskutierten, war es uns Kindern zumeist erlaubt, zu den Füßen unserer Eltern zu spielen oder einfach nur zu lauschen, sofern wir uns dabei still verhielten. Jetzt aber beeindruckte mich der Thronsaal – und vor allem der Anblick meiner Eltern – wie nie zuvor, denn zum ersten Mal kam ich nicht als Kind, sondern als Sünder. Meine Furcht wuchs, und meine Stimme wollte mit diesem Feigling von Körper, in dem sie festsaß, nichts mehr zu tun haben, drängelte sich entschlossen an dem Kieselstein in meinem Hals vorbei und flüchtete sich über meine Lippen ins Freie.
»Es war nicht seine Schuld!«, hörte ich mich hilflos drauflos plappern und beobachtete, wie mein Arm in die Höhe schnellte und auf Sora deutete. »Es war auch nicht seine Idee. Und auch nicht meine. Eigentlich hatten wir gar nichts mit der ganzen Sache zu tun. Wir wollten Hohenheim überhaupt nicht verlassen, wir haben nur nach Muscheln getaucht, und dann kam diese Strömung, die mich mitriss, und Sora wollte mich retten, aber da war ich schon auf der anderen Seite des Riffs, und dann war da … Da war … Da war …«
Es war wirklich gemein von meiner Stimme. Erst trug sie eine Ausrede vor, die mir beim besten Willen nie eingefallen wäre, und dann, als es nicht nur spannend, sondern auch ungemein wichtig wurde, überlegte sie es sich plötzlich anders und machte einfach kehrt, um in meinen Rachen zurückzukehren und sich auch unter größten Mühen nicht mehr herauslocken zu lassen.
Meine Eltern sahen ausdruckslos zu mir hin, ihre Mienen waren wie versteinert. Mein Arm sank wieder hinab, und ich zog die Schultern zusammen, starrte auf meine Zehen und scharrte mit den Füßen.
»War das deine Version der Geschichte?«, erkundigte sich mein Vater nach einer Weile. »Möchtest du weiterlügen, oder hören wir uns jetzt an, was dein Bruder zu sagen hat?« Ich schwieg. »Also gut«, sagte mein Vater und wandte sich Sora zu. »Sprich, Krüppel!«
Krüppel? Das hat er gesagt?
Nein. Ich glaube nicht. Aber bestimmt hätte er es gern gesagt. Einzig seine gute Erziehung hielt ihn davon ab. Ich sagte doch, Sora hatte ein Geheimnis. Mein Vater wusste davon und zog die falschen Schlüsse daraus, und er ließ ihn spüren, wie viel Wert er in seinen Augen verloren hatte.
Statt sich in lächerlichen Ausreden zu verstricken, straffte Sora die Schultern, suchte den Blick meines Vaters und sagte nur vier Worte: »Es tut mir leid.«
Dein Bruder war weise.
Ja. Er hat viele wunderbare Eigenschaften. Eine davon ist, dass er ganz genau weiß, wann er die Klappe halten muss. Ich hingegen bin meist ruhig, aber wenn ich mich bedrängt fühle, dann weiß ich einfach nicht mehr, was ich tue – und vor allem sage.
» Es tut mir leid? «, wiederholte mein Vater drohend. »Das ist alles, was dir dazu einfällt?«
Irritiert blickte ich auf und sah, wie sich die rechte Hand meiner Mutter um die linke Hand meines Vaters schloss. Es sollte eine besänftigende Geste sein, die ihre Wirkung jedoch verfehlte. Mein Vater erhob sich mit einem Ruck und stampfte auf Sora zu, der schwieg und nicht einmal zusammenzuckte, geschweige denn zurückwich. Er war erst zehn
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