Das Mädchen aus dem Meer: Roman
fürchtete. Nach wenigen Monaten unter seinen Fittichen stand ich mitten in der Nacht auf und sägte die drei Beine seines Hockers vor der Tafel in dem kleinen Raum an, in dem wir uns mit der lästigen Theorie befassten. Sprachkunde, Rechenkunde, Rohstofflehre, Technik … Auf dem grauen Schiefer, den er binnen kürzester Zeit unter monotonem Gemurmel mit einem Stück Kreide vollzukritzeln vermochte, waren selbst die interessantesten Dinge nur noch langweilige Symbole, Striche und Buchstaben.
Buchstaben?
So etwas wie eure Bilderschrift, eure Glyphen. Weniger kunstvoll zwar, dafür aber viel einfacher zu erlernen. Als kleines Kind konnte ich unseren Buchstaben allerdings herzlich wenig abgewinnen. Nichtsdestotrotz lernte ich sie sehr schnell – ich bin wohl tatsächlich dafür geschaffen, wie Moijo schon lange vor der Konferenz verlauten ließ.
Jedenfalls sägte ich die Beine des Hockers mit einem Werkzeug an, das der Kaminwächter mir freundlicherweise ausgeliehen hatte, und nachdem Moijo seine fürchterliche Tafel bis in den untersten rechten Winkel mit mathematischen Zeichen vollgeschmiert hatte, forderte er mich auf, sie mit Tinte in mein Lernbuch zu übertragen und ließ sich auf dem Hocker nieder. Der krachte mit einem herrlichen Geräusch unter ihm zusammen, und der dumpfe Schlag, mit dem Moijos knochiger Hintern auf den hölzernen Dielen im Lernzimmer landete, war Musik in meinen Ohren. Schönere, als die Musik aus dem Riff und das Flötenspiel meiner Mutter im Duett, wenn du es genau wissen willst.
Ich grinste wie eine Muräne, während er sich mühselig aufrappelte, und bemühte mich um einen überraschten und überaus besorgten Gesichtsausdruck, als er wieder halbwegs aufrecht stand und ausdruckslos zu mir hinsah. Ich glaube, ich spielte meine Rolle ziemlich gut, aber aus irgendeinem Grunde wusste er trotzdem gleich, wer hinter dem Attentat steckte. Vielleicht, weil außer ihm bloß meine Eltern und ich einen Schlüssel für das Lehrzimmer besaßen.
Moijo verzog keine Miene, sondern nahm in aller Ruhe seine Rute an sich, die auf einem kleinen Vorsprung lag, der eigens dafür unter der Tafel angebracht worden war, ließ sie mir auf den Hintern klatschen, nahm ein fürchterlich schweres Buch aus einem Regal und legte es auf meinem Pult ab.
»Von da«, sagte er ruhig und zeigte auf die erste Seite, »bis da.« Und damit zeigte er auf die einhundertste Seite.
Ich zuckte die Schultern und begann, laut vorzulesen, aber er ließ seine Rute noch einmal auf mein Gesäß knallen, schüttelte den Kopf, als ich verwirrt abbrach, und deutete auf meinen Federkiel und mein Lernbuch.
Ich starrte ihn an.
»Nein«, sagte ich trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Doch.« Moijo trug seine Rute an ihren Platz, verließ den Raum und verschloss die Tür von außen.
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte, aber dann schnaubte ich nur »Pah!«, kramte meinen eigenen Schlüssel aus dem Beutel hervor, in dem ich meinen Lernkram aufbewahrte, und schlenderte zur Tür. Aber Moijo hatte seinen Schlüssel von außen stecken lassen, darum ließ sich meiner nicht in das Schloss schieben. Ich war eingesperrt.
»He …«, schnappte ich empört, als ich mir dieser Tatsache bewusst wurde. »Lass mich sofort raus, du … du …« Ich suchte nach irgendetwas, womit ich ihn angemessen kränken konnte. »Du Simpel!«, schrie ich schließlich und hämmerte mit den geballten Fäusten gegen die Tür.
Aber nichts geschah. Niemand schimpfte zurück, niemand zog den verflixten Schlüssel aus dem Schloss, niemand machte Anstalten, mich zu befreien oder wenigstens anzuhören. Trotzdem randalierte ich weiter, rannte zum Fenster, schrie nach den Wachen, die mein Gezeter einfach ignorierten, stieß in meiner Wut irgendwann sogar das Bücherregal um und gab erst auf, als ich völlig erschöpft und vom Herumzürnen knallrot im Gesicht war.
Was allerdings nicht bedeutete, dass ich klein beigab. Mir war wirklich nicht danach, einhundert Seiten aus einem Wirtschaftsbuch zu kopieren, das zudem überhaupt nicht altersgerecht war. Ich verstand ja nicht einmal den Untertitel – das ganze Ding war so voller Fremdwörter, dass es ebenso gut in deiner Sprache hätte verfasst sein können, die ich damals noch nicht beherrschte.
Stattdessen schrieb ich eine Hassrede auf Moijo an die Tafel. Ich gab mir große Mühe und bewies Ideenreichtum im Erfinden zahlreicher neuer Schimpfwörter, die sich sogar reimten. Aber als Moijo am
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