Das Mädchen aus dem Meer: Roman
meinem Zimmer. Nur ich, der Wasserkrug und ein Nachttopf …« Chita lächelte schief. »Wenigstens lernte ich dabei, auf der Flöte zu spielen. Und das Pfeifen verschwand tatsächlich. Warte. Vielleicht … Ja!«
Sie löste eine Schnur, die einen durchnässten Beutel verschloss, der am Gürtel ihres Gewands befestigt war, und zog einen kleinen, schlammig braunen Gegenstand daraus hervor. Stolz hielt sie ihm das kaum mehr als fingerlange, birnenförmige Instrument hin, aber Froh konnte nicht danach greifen, ohne die Paddel beiseitezulegen, und ehe er sich dazu entscheiden konnte, den fremdartigen Gegenstand in die Hände zu nehmen, deutete sie sein Zögern wohl als Ablehnung, denn sie runzelte kurz die Stirn und sah ein bisschen enttäuscht aus, als sie den Arm wieder zurückzog.
Keine zwei Lidschläge später war die Enttäuschung jedoch wieder verflogen. Sie legte die Flöte an die Lippen, begann leise zu spielen, und Froh lauschte ihr. Obwohl die ersten Töne nicht allzu gut klangen (was an dem Wasser liegen mochte, das aus den kleinen Löchern spritzte, über die ihre Finger flogen), war er beeindruckt.
Und wieder fragte er sich, was sie wohl wirklich erlebt hatte, die Fremde mit dem goldenen Haar und ihrer seltsamen kleinen Flöte, und welche Lehre er daraus ziehen sollte. Welchen Weg war wohl die Seele des Knallfischers nach seinem Tod gegangen?
Er hätte sich gewünscht, sie hätte es ihm gesagt. Aber an diesem Punkt, der für ihn der wichtigste der ganzen Geschichte war, hörte Letztere scheinbar einfach auf.
»Das hast du allein in wenigen Tagen gelernt?«, erkundigte er sich, als sie ihr Flötenspiel bald wieder beendete und das Instrument in ihrem nassen Beutel verstaute.
»Allein schon, nur nicht in wenigen Tagen«, antwortete sie stolz. »Immer dann, wenn ich allein in meinem Zimmer, aber noch nicht müde war, habe ich ein bisschen geübt.«
»Aber du hattest einen eigenen Lehrmeister«, wunderte sich Froh. »Wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, dir das Flötenspiel beizubringen?«
Chita lachte. »Bei allen Sternen am Himmel – Lehrmeister und schöne Dinge ! Das lässt sich ungefähr so gut miteinander vereinbaren wie Feuer und Eisschollen . Oder Mani und Landebahn .«
»Aber er war es, der dir meine Sprache beibrachte«, vermutete Froh, doch sie verneinte erneut.
»Moijo sprach nur zwei Sprachen: Unsere Muttersprache und die der Gewalt. Aber es war nur eine Rute, mit der er sich ausdrückte, wenn er auf Letztere zurückgriff. Sie machte ein hässliches Geräusch, das klang, als ob eine Seekuh mit der Zunge schnalzte, tat aber nicht ernsthaft weh. Man erschrak bloß ein wenig, dachte beim nächsten Mal aber trotzdem ein bisschen besser nach, ehe man den Mund aufmachte.«
»Was hat er dich denn gelehrt?«, hakte Froh nach.
Chita seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Na, von allem ein bisschen und vom meisten zu wenig. Wie es bei uns eben ist …«
6
S o ein persönlicher Lehrmeister kann einem ganz schön auf die Nerven gehen. Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass er seinen entsprechenden Schützling an sechs von sieben Tagen auf Schritt und Tritt verfolgt – er klebt einem an den Fersen wie eine Klette, sogar beim Essen. Und während man schläft, hockt er im Nebenzimmer an einem Pult und schmiert vermeintlich wissenswerte Sachen über seinen Schüler oder seine Schülerin in ein Buch, das nach dem vollendeten vierzehnten Lebensjahr von einem ganzen Gelehrten-Komitee ausgewertet wird.
Moijo und seine dumme Rute sollten mir also noch eine ganze Weile erhalten bleiben.
Er war schon recht alt und entsprechend konservativ in seinen Lehren und der Art, sie zu vermitteln und meine Eltern bei meiner Erziehung zu unterstützen. Sie hatten ihn mit Bedacht ausgewählt und vertrauten ihm praktisch blind, also hatte er freie Hand. Gab ich eine falsche Antwort oder verhielt ich mich aufmüpfig oder uneinsichtig, hatte er das Recht, Konsequenzen folgen zu lassen, ohne mit meinen Eltern Rücksprache zu halten. Schließlich trugen sie die Verantwortung für gleich zwei Inselstaaten; ihre Zeit war zu knapp bemessen, um sich mit verweigerten Strafarbeiten oder an die Schiefertafel gespuckten Papierklümpchen zu befassen.
Darauf hatten meine Eltern mich noch vor dem ersten Lerntag ausdrücklich hingewiesen. Dennoch konnte ich es nicht lassen, Moijos Grenzen erst einmal gründlich auszutesten und ließ ihn, nachdem er sie mir aufgewiesen hatte, wissen, dass ich seine lächerliche Rute nicht
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