Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Kaminwächters …
Wer auch immer gerade von der Arbeit freigestellt werden konnte und sich mit Fleiß und Sorgfalt eine Belohnung verdient hatte, durfte uns begleiten, wenn wir Hohenheim mit den Lehrmeistern und ein paar Wachen verließen, um im Freien zu lernen. Störte eines dieser anderen Kinder unsere Lehrmeister, und sei es nur mit einer Frage oder einer unnötigen Bemerkung, dann schickten sie es zurück zum Schloss. Und zwar zu Fuß, ganz gleich, wie weit der Weg war, den wir auf unseren Pferden oder mit der Kutsche zurückgelegt hatten. Weil das hinlänglich bekannt war, kam es nur sehr selten vor. In der Regel waren wir ein freundlicher, friedlicher Haufen.
Der Tag, an dem ich mein Zimmer nach dem Vorfall mit dem Knallfischer endlich wieder verlassen durfte, war ein solcher Tag, und das war in mehrfacher Hinsicht erfreulich: Zum Ersten natürlich, weil ich endlich wieder an die frische Luft durfte, zum Zweiten, weil ich den praktischen Unterricht wirklich mochte, zum Dritten, weil sich die erste Begegnung mit meinem Vater nach seinem Aussetzer im Saal auf diese Weise noch mindestens bis zum gemeinsamen Abendbrot verzögerte. Und allem voran natürlich, weil ich Sora endlich wiedersah.
Während der vergangenen Tage hatte ich mich sehr um ihn gesorgt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange und hart unser Vater noch auf ihn eingeschlagen hatte, nachdem meine Mutter mich aus dem Thronsaal geschoben hatte, und war unendlich erleichtert, als ich ihn im Vollbesitz sämtlicher Gliedmaßen im Hof erblickte – auch wenn er noch immer recht mitgenommen aussah. Der Kopfverband war zwar verschwunden, aber in seinem Ohr steckte ein dicker Klumpen Schafswolle, der es vor Wind und Lärm schützte, und seine linke Gesichtshälfte leuchtete in allen Farben des Korallenriffs. Er hinkte leicht, aber das bemerkte ich erst später, als wir aufbrachen.
Kaum hatte ich ihn zwischen den anderen Kindern im Hof entdeckt, in dem wir uns bei dem Karren trafen, der Proviant und Material an unser Ziel befördern würde, sprintete ich aus dem Stand los und fiel ihm um den Hals. Das tat ich ziemlich häufig, manchmal sogar ganz ohne Grund. Und Sora, der so viel größer und stärker war als ich, pflegte mich für gewöhnlich in die Höhe zu heben und sich einmal um seine eigene Achse zu drehen, sodass meine Füße die Bodenhaftung verloren und ich vor Vergnügen zu quietschen begann.
Aber heute schwankte er, als ich meine Arme um seinen Hals schloss, erwiderte meine stürmische Begrüßung lediglich mit einem kleinen Kuss auf meine Stirn und schob mich dann ein Stück von sich weg.
»Ruhig, Schwesterchen«, bat er mit einem gequälten Lächeln. »Du siehst: Dein Klettergerüst benötigt eine Generalüberholung, ehe es wieder nach Lust und Laune genutzt werden kann.«
Damit meinte er seinen zerschundenen Körper, und nun, da ich ihn aus der Nähe und deutlich aufmerksamer betrachtete als zuvor, nagte ich bekümmert, mitfühlend und auch verlegen wegen meiner Unbeherrschtheit an meiner Unterlippe. »Tut ef fehr weh?«, wollte ich wissen.
»Nimm den Mund aus dem Mund, wenn du mit mir sprichst, Schwester«, lachte Sora. »Aber: Nein. Solange du mich nicht mit einem Bottich voller Trauben verwechselst, der gestampft werden muss, ist es nicht so schlimm, wie es aussieht. Was mich nicht tötet …«
»Macht dich stärker?«, riet ich.
»Nein. Bunter«, lachte Sora.
Seine Tapferkeit ließ mich staunen. An seiner Stelle wäre mir eine ganze Menge zu diesem fürchterlich verfärbten, teilweise noch immer angeschwollenen Gesicht eingefallen: Ein Mordgedanke oder zumindest ein Racheplan, Hassreden, Selbstmitleid und eine Unzahl von Flüchen. Aber bestimmt kein Scherz.
Sora hingegen witzelte auf seine eigenen Kosten herum, weigerte sich einfach, jeglichen Groll oder Trübsinn an sich heranzulassen – das verriet mir das Feuer, das noch immer uneingeschränkt in seinen Augen loderte –, und fieberte schon dem nächsten Abenteuer entgegen, ehe die letzten Wunden verheilt waren. Ich glaube, wenn er einem Wolf am Schwanz gezogen hätte und der Wolf ihm daraufhin den Arm abgebissen hätte, dann hätte er ihn einfach mit der anderen Hand weiter genervt. Wir ahnten ja noch nicht, dass nicht ihm, sondern mir die großen Abenteuer winkten. Vieles im Leben kann man sich eben nicht aussuchen.
»Wohin reiten wir heute?«, wechselte ich unbehaglich das Thema, obwohl mir eine Menge Fragen auf der Zunge brannten, die durchaus etwas mit seinen
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