Das Mädchen aus dem Meer: Roman
in die Ecke, die ihm am nächsten war. Aber er verdrehte nur die Augen, suchte sich einen anderen Platz und schlief, bis unser Arrest am frühen Abend vorüber war.
12
F roh bedachte die Fremde mit etwas, das ein neckisches Grinsen sein sollte, angesichts seiner inzwischen ebenfalls eingerissenen Lippen aber eher zu einer unschönen Fratze geriet.
»Wenn man dir zuhört, könnte man glauben, dass du früher einmal ein Hund gewesen bist«, kommentierte er. »Du pieselst hierhin und dorthin, wie ein Rüde, der sein Revier markiert …«
Ihr von der Sonne verbranntes Gesicht wurde vor Scham noch röter.
»Ich bin nur ehrlich!«, verteidigte sie sich und zuckte schließlich die Schultern. »Kinder und kleine Hunde …«, seufzte sie. »So groß ist der Unterschied gar nicht. Hat zumindest meine Mutter immer gesagt. Ich habe Durst«, wechselte sie dann unvermittelt das Thema.
»Ich habe kein Wasser mehr«, beteuerte Froh. »Nur das, was uns umgibt, so weit das Auge reicht. Aber wenn du davon trinkst, wirst du sterben. Es gehört Ivi. Er mag es übrigens auch nicht, wenn man im Meer schwimmt. Du hattest schon zweimal Glück, dass er dich nicht gefressen hat.«
»Ivi …«, stöhnte Chita. »Versteh es doch endlich, Froh: Es gibt keine Götter. Nicht einen einzigen. Ivi, das war doch der mit den beiden Schlangenköpfen, oder?«
Froh verneinte.
»Dann der mit den Muschelhörnern, richtig? Ja. Der Zweitjüngste unseres Schriftführers ist als Ivi an eure Küste gereist. In einer prachtvollen Rüstung, mit einer furchterregenden Maske und einem Schwanz aus Tentakeln, die sich sogar bewegten. Von dort aus brachte man ihn nach Walla«, fügte sie bitter hinzu.
»Was ist Walla?«, erkundigte sich Froh, ohne auf ihre lästerliche Lüge einzugehen. »Hast du deinen Lehrmeister danach gefragt? Oder deine Eltern?«
»Sowohl als auch«, antwortete Chita. »Sie sagten, es sei das Paradies.«
»Ein göttlicher Ort«, vermutete Froh. »Eine heilige Stätte.«
»Stimmt«, bestätigte Chita. »Also etwas, das nicht existiert. Das haben sie natürlich nicht zugegeben. Stattdessen hat Moijo mir gezeigt, wo es auf der Karte eingezeichnet ist, und mir die Mosaiken in der Säulenhalle erklärt, die das angebliche Leben in Walla in Bildern beschreiben.« Sie winkte ab. »Du hast alle Fische über Bord geworfen, Froh«, schalt sie ihn. »Ich kann noch immer kein Mani entdecken. Willst du nicht dein Netz auswerfen? Vielleicht erwischen wir eine Schildkröte. Man kann ihr Blut trinken. Es schmeckt nicht sonderlich gut, sagt man, aber es löscht den Durst.«
»Ich habe kein Netz«, sagte Froh.
»Du hast kein Netz?«, wunderte sich Chita. »Aber du bist doch ein Fischer!«
»Aber ich habe kein Netz dabei «, betonte Froh. »Ich habe es zurückgelassen, damit meine Familie es benutzen kann.«
»Du kannst doch nicht zum Fischen hinauspaddeln, ohne das Netz mitzunehmen! Welchen Sinn soll das haben: Du hast das Boot, und deine Familie hat das Netz. Das eine ist ohne das andere praktisch wertlos!«
»Ein neues Boot ist schnell gefertigt. Ein Netz ist von viel größerem Wert«, klärte Froh sie auf.
»Aber du hast eine Angelrute«, stellte Chita fest.
»Siehst du hier eine Angelrute?«
»Nein, aber …«, begann Chita, aber Froh lachte dazwischen.
»Sie ist zerbrochen, kaum, dass die Küste außer Sichtweite war. Es war ein Zeichen. Ich habe sie Ivi überlassen. Und er hat geantwortet. Zuletzt, indem er dich zu mir geschickt hat.«
»Aber dein Netz …«, wandte Chita ein. »Du hättest doch das eine und das andere früher oder später … Also das Netz und das Boot am Abend … Bei deiner Rückkehr …«
Als sie begriff, was das, was er ihr gerade erklärt hatte, bedeutete, brach sie ab, und ihre Augen weiteten sich.
»Du … Du hattest nie vor, nach Hause zurückzukehren, nicht wahr?«, erkundigte sie sich überrascht. »Du bist vor irgendetwas geflohen. Mit nichts als einer einfachen Angelrute, etwas Trinkwasser und diesen Kräutern, die darin schwammen!«
Froh nickte, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. »Nicht geflohen«, verbesserte er sie. »Ich ging freiwillig fort. Um meine Familie zu schützen.«
»Zu schützen? Wovor?«, verlangte Chita zu wissen. »Bist du gefährlich? Bist du ein Verbrecher? Ein Mörder? Ein unbeherrschter Gewalttäter? So siehst du gar nicht aus.«
Froh verneinte. »Nichts dergleichen. Aber die Götter zürnen mir«, gestand er. »Sie verletzen jene, die ich liebe, um mir mein Vergehen
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