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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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über ihn spricht – und vor allem, dass er meistens überhaupt nicht über ihn spricht. Nur über dich. Dabei hat er doch nur zwei Kinder. Meine Eltern sprechen über meine Geschwister und mich gleichermaßen, und auch immer im gleichen Tonfall. Sie sind stolz auf uns. Aber dein Vater … Weißt du: Er sieht deinen Bruder nicht einmal an. Er meidet ihn, wo er kann.«
    Ich schwieg. Ich wollte irgendetwas sagen, ihn der Lüge bezichtigen, ihn beleidigen, damit er mich beleidigte und ich einen Grund hatte, ihn doch noch einmal zu schlagen – wenigstens ein bisschen, auch wenn er mir dafür wieder wehtat. Doch stattdessen stand ich nur dumm da und schaute ihn an. Cocha hatte ausgesprochen, was mir selbst nicht entgangen war und wofür ich während der vergangenen Wochen nicht die richtigen Worte gefunden hatte – nicht einmal für mich selbst.
    »Bestimmt hat dein Bruder irgendeinen Mangel«, setzte Cocha gleichgültig nach. »Jedenfalls habe ich weder Angst vor Sora noch vor dir.«
    »Mein Bruder hat keinen Mangel!«, protestierte ich. »Hätte er einen Mangel, hätte man ihn längst nach Walla geschickt!«
    Cocha lachte, aber es klang nicht vergnügt, sondern bitter. Dann wurde er schlagartig wieder ernst.
    »Wünsch deinem Bruder, dass man ihn nicht nach Walla schickt. Niemals. Ich wünsche es ihm auch nicht, obwohl ich nicht weiß, ob wir uns nach dem Handelsfest noch einmal vertragen können. Entschuldigung übrigens dafür: Ich habe die Kontrolle verloren. Ich war wütend über euer Gehabe.«
    Da war sie ja doch, die Entschuldigung, auf die ich so lange hatte warten müssen … Aber sie klang halbherzig. Ich funkelte ihn böse an.
    »Wir haben uns gut benommen und waren sehr großzügig. Wir haben das Volk beschenkt«, sagte ich. »Was ist daran Gehabe ?«
    »Im Sommer davor ist ein Mädchen unter die Räder eines Wagens geraten. Es war vier Jahre alt. Das Ding hat ihr hüftabwärts jeden Knochen im Leib gebrochen«, antwortete Cocha schulterzuckend, als sei das Erklärung genug. War es für mich aber nicht.
    »Wer sich in Gefahr begibt …«, winkte ich ab. »Was ist schon dabei? Die Körperkundigen werden es schon wieder gerichtet haben.«
    »Wenn sie alles können: Warum beheben sie nicht den Mangel deines Bruders?«, gab Cocha zurück.
    »Mein Bruder hat keinen …«
    »Außer, dass er auf einem Ohr taub ist«, winkte Cocha ab. »Aber es war ein Mädchen aus der Unterschicht. Selbst wenn ein Spezialist ihr hätte helfen können: Ihre Familie hätte ihn sich nicht leisten können. Niemals.«
    »Das ist kein Mangel. Er hat ja noch ein zweites Ohr«, verteidigte ich meinen Bruder. »Und außerdem: Dann hat man das Mädchen eben nach Walla gebracht. Wozu braucht man seine Beine im Paradies?«
    Wieder lachte Cocha auf. »Im Paradies, aha … Da, wohin man auch den Vogelmann von eurem Ehrenwagen gebracht hat, ja? Den Kerl mit dem angenähten Schnabel und den falschen Flügeln …« Er maß mich durchdringend mit seinen klaren, eisblauen Augen. »Hast du mal darüber nachgedacht, wieso Faronen, die an nichts glauben außer vielleicht an die Vernunft, den Ort, an den sie die Schwachen und Kranken bringen, das Paradies nennen? Hm?«
    »Ich … Das …«, stammelte ich hilflos.
    Nein, das hatte ich nicht. Aber Cocha hatte bestimmt einen Erwachsenen danach gefragt, denn was er gesagt hatte, klang, als hätte er es auswendig gelernt. Heute höre ich die Stimme seiner Mutter, wenn ich an seine Worte zurückdenke.
    »Denk darüber nach«, empfahl mir Cocha. »Und such mal nach Leuten, die aus Walla zurückgekehrt sind. Zeig mir einen, der in eurem Paradies war. Und dann noch einen anderen, der länger als zwei oder drei Tage mit dem Schnabel eines Vogels im Gesicht leben konnte.«
    »Du redest dummes Zeug«, behauptete ich trotz aller Zweifel, die seine Worte in mir geweckt hatten. »Allein schon für dein blödes Gequatsche hängst du über kurz oder lang am Galgen.«
    Cocha betrachtete mich ruhig. »Ich sagte doch, ich habe keine Angst vor dir oder Sora«, erwiderte er. »Egal, wer von euch irgendwann die Krieger deines Vaters befehligt: Mein Heer wird größer sein. Denn mein Heer ist der Rest der Menschheit.«
    Ich spie ihm vor die Füße. Wie hätte ich auch darauf reagieren sollen? Ich verstand gar nicht, wovon er da in so hochgestochenen Worten sprach. Ich fühlte mich ziemlich dumm, aber das hätte ich ihm gegenüber natürlich nie zugegeben.
    Nach dem Mittagessen, das Moijo uns in die Zelle brachte, pinkelte ich

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