Das Mädchen aus dem Meer: Roman
weg, positionierte mich, kaum außer Sichtweite, auf den Zehenspitzen vor ihm, um fast auf Augenhöhe mit ihm zu sein, und hob die Hand.
»Ich verspreche, dass ich immer deine Schwester bleiben werde«, erneuerte ich meinen einst eher halbherzig abgegebenen Schwur feierlich und mit ernstem Blick. »Und ich schwöre, dass du immer mein großer, bester, unvergleichlichster, komischster, verrücktester und hübschster Lieblingsbruder sein wirst. Ehrenwort.«
Nun endlich lachte Sora, und wir rannten albernd und kichernd zum Strand hinunter, denn es war der siebte Tag der Woche, und Markannesch und Moijo hatten frei und konnten uns nicht mit etwaigen Hinweisen darauf in den Ohren liegen, dass es nicht hübschster sondern hübschester heißen müsste, und dass Mutterkuchen nicht nach Kokosnüssen schmeckt, sondern eher nach Schweineinnereien, man auf das eine oder andere aber gut verzichten kann – sowohl im Sprachgebrauch als auch auf dem Teller.
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag am Strand, denn Sora hatte einen guten Tag. Seine Wangen waren rosig, und er war weniger schlapp als inzwischen gewöhnlich, sodass wir schwimmen und uns am Strand mit Schlamm bewerfen konnten, bis wir aussahen wie Schweine, die sich im Dreck gesuhlt hatten. Danach gingen wir noch einmal schwimmen, um oberflächlich sauber zu werden, und ließen unsere Kleider und Haare in der Abendsonne trocknen. Und als wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten, war der ganze Hof in Aufruhr.
Mägde und Knechte eilten mit angespannten Mienen von hier nach dort, brachten Körbe mit sauberen Laken zum Ruhehaus und trugen schmutzige Wäsche heraus, lieferten Krüge voller süßer Säfte und Tabletts voller Trauben und Obstsalat bei Lammek, dem Novizen, ab, der unentwegt die Eingangstür öffnete und wieder verschloss, um irgendetwas anzunehmen oder abzugeben und neue Aufträge zu erteilen. Wenn sich ihre Wege kreuzten, wechselten die Bediensteten geflüsterte, aber hörbar aufgeregte Worte. Ein Volksbote harrte auf einem gesattelten Pferd gleich vor dem Ruhehaus, jederzeit bereit, seinem Tier die Sporen zu geben und eine Kunde in die Welt hinauszutragen, und es war nicht schwer zu erraten, um welche Art Botschaft es gehen würde. Nur, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte, musste wohl noch geklärt werden.
Keine Frage: Meine Mutter gebar ihr drittes Kind oder hatte es gerade schon geboren, und darum war es für die allgemeine Aufregung ein Leichtes, auch mich voll und ganz in Besitz zu nehmen.
»Das Baby!«, platzte es aus mir heraus, kaum dass ich eins und eins zusammengezählt hatte. Wir hatten das Ruhehaus schon fast erreicht. Ich packte Sora bei der Hand und zerrte ihn ungeduldig hinter mir her, während ich auf Lammek zueilte, der in diesem Moment eines der Küchenmädchen herbeipfiff, um noch irgendetwas Süßes zu ordern, das meinen Vater bei Laune hielt, während dieser irgendwo in den Räumen hinter ihm seines neuen Sprosses harrte. »Komm schon, Sora! Beeil dich!«, drängelte ich. »Ich will die Erste sein, die es sieht!«
Mir schien, als ginge Sora mit Absicht noch ein bisschen langsamer, was mich ärgerte. Aber ehe ich ihn schelten konnte, besann ich mich darauf, dass wir einen schönen, aber auch anstrengenden Nachmittag am Strand verlebt hatten, und dass es ihm jetzt vielleicht schon wieder schlecht ging, weil doch sein Herz so krank war. Außerdem sagte er skeptisch: »Es ist zu früh dafür.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein bisschen«, behauptete ich, obwohl ich es so genau eigentlich gar nicht wusste. Ich passte nicht immer auf, wenn Moijo vor mir mit der Tafel quatschte – besonders, wenn es um Zahlen und Daten ging, ließ meine Aufmerksamkeit zuweilen nach. »Ein paar Tage mehr oder weniger machen doch nichts her. Und Hommijr ist der beste Körpermeister der Welt.«
»So gut, dass er nicht einmal das Loch im Gaumen deines Vaters stopfen kann«, spottete Sora, aber seine Häme wirkte nur halbherzig. Vielmehr schien es, als machte er sich tatsächlich Sorgen, obwohl er nach wie vor nicht gerade darauf brannte, einen kleinen, plärrenden Konkurrenten in unserer Familie zu empfangen. »Schon gut, schon gut«, winkte er schließlich auch ab, ehe ich noch irgendetwas sagen konnte. »Ist unsere Mutter bei euch, Lammek?«, wandte er sich an den Novizen, der daraufhin nickte und fast gleichzeitig den Kopf schüttelte.
»Ja«, erklärte er. »Aber ich darf niemanden hereinlassen. Sie braucht Ruhe.«
»Wir
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