Das Mädchen aus dem Meer: Roman
es mir schien. Heute weiß ich, dass er versucht hat, sie wiederzubeleben, aber damals verstand ich nichts von dem, was er da tat. Ich verstand nur, dass meine Schwester einen Mangel hatte, der nicht hübsch anzusehen war, und einen weiteren, der sie vielleicht töten würde, und als sich ihre Haut erst blau und lila und bald darauf gelblich und grau verfärbte, wusste ich, dass alles, was Hommijr getan hatte, sinnlos gewesen und sie längst tot war.
Ich stand da wie festgefroren. Und mein Vater schob den Körpermeister und seinen Novizen beiseite und blickte ausdruckslos auf den leblosen Säugling herab.
Meine Mutter, die während der vergangenen Minuten geweint und geschrien und gefleht hatte, schluchzte und zitterte nur noch völlig entkräftet vor sich hin und sah bei alledem nicht viel lebendiger aus als meine tote Schwester. Aber das hinderte meinen Vater nicht daran, nach einer Weile zu ihr herumzufahren und sie anzubrüllen.
»Du hast es schon wieder getan!«, fuhr er sie an und stürmte zu ihr hin, um sie am Schopf zu packen und daran zu reißen, als wollte er ihren Kopf mit bloßen Händen von ihren Schultern trennen. »Es ist nicht meins! Es ist ein toter Bastard, so wie dein Sohn ein lebender Bastard ist! Du hast es schon wieder getan!«
Meine Mutter jammerte und flehte. »Es ist dein Kind! Es sind alles deine Kinder!«, beteuerte sie unter Tränen. »Dein Sohn und deine Töchter … Erkennst du es nicht? Siehst du nicht ihren Gaumen? Es sind deine Kinder, deine Erben …«
Und dann taten Hommijr und Lammek etwas sehr Mutiges: Sie zerrten meinen Vater von meiner Mutter weg und stellten sich schützend vor sie.
»Es sind Eure Kinder, Rah Loro«, bestätigte Hommijr mühsam beherrscht, während mein Vater nach ihm stieß und trat und (zum Glück vergeblich) wieder zu meiner Mutter zu gelangen versuchte. »Es sind Eure Kinder, und bei allem Respekt: Dieses letzte hier hat alles Schlechte geerbt, was Ihr zu vererben im Blut tragt. Wahrscheinlich ist es besser für die Menschheit, dass es nicht mehr lebt.«
Du übertreibst schon wieder.
Ja. Weil ich es an Hommijrs Stelle nämlich genau so gesagt hätte. Vielleicht wäre ich sogar noch durchs Fenster geklettert und hätte es meinem Vater so vor den Latz geknallt, aber dann traf mich ein mahnender Blick Lammeks, der ja wusste, dass ich am Fenster stand, und ich zog die Schultern zusammen und rannte heulend zu Sora, der sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, um ihm zu erzählen, was passiert war.
Mein Bruder hörte mir zu und schwieg. Er nahm mich in den Arm und schaukelte mich, als wäre ich das Baby, und zwar das lebendige, das wir erwartet hatten und auf das ich mich so sehr gefreut hatte. Und irgendwann schlief ich erschöpft in seinen Armen ein.
15
I nzwischen brannte die Mittagssonne erbarmungslos vom Himmel. Das Holz des schmalen Baumboots brannte unter Frohs nackten Füßen. Er kam sich elendig schwach vor. Mund und Hals fühlten sich ausgetrocknet an, wie Dörrfisch, und der raue Pelz, der sich auf seiner Zunge gebildet zu haben schien, schmeckte auch ganz so.
Längst war ihm schleierhaft, wieso er sich noch vor wenigen Tagen darüber gefreut hatte, dass Großer Zahnfisch tatsächlich nach Fisch schmeckte. Alles schmeckte nach Fisch. Der trockene Pelz, die Spuren von Speichel, die Blasen an seinen Händen, an denen er dann und wann lutschte, um ein um das andere Mal festzustellen, dass das den Schmerz auch nicht linderte, und sogar die Luft, die zwischen dem glühenden Himmel und den Wellen waberte wie ein zweites Meer, das man atmen konnte, aber nicht wollte, wenn man die Wahl hatte. Aber er hatte ja keine Wahl.
Vor einer Weile hatte er die Wahl gehabt, die verfluchte Muschel einfach auf dem Opferfelsen liegen zu lassen, allein für den Gedanken, sie zu stehlen, ein paar Gebete zu sprechen und zu seiner Familie zurückzukehren, als wäre nichts geschehen. Als machte es ihm nichts aus, dass sein Vater darauf bestand, dass er Dreist und Wunderschön, zwei andere Töchter des Medizinmanns, heiratete, und als gäbe es Niedlich, die Tochter des Ziegenhirten, gar nicht.
Aber er hatte sich dafür entschieden, diese perlmuttglänzende Muschel für ein Mädchen zu stehlen, das ohnehin nicht für ihn bestimmt war, weil sie zwar Niedlich hieß, in Wirklichkeit aber traumhaft schön war. Und außerdem so unbeschreiblich besonders …
Weil er immer dann, wenn sich ihre Blicke getroffen hatten, das Gefühl gehabt hatte, den Boden unter den Füßen
Weitere Kostenlose Bücher