Das Mädchen aus dem Meer: Roman
und wurden nach Hause geschickt. Sora lachte auch und titulierte mich als blondes Holzköpfchen, und ich schlich mich in der Nacht in sein Zimmer und füllte seine Lederstiefel mit Fischinnereien.
Sora tat übertrieben überrascht.
»Du warst das also!«, tadelte er mich grinsend. »Und ich dachte schon, Markannesch hätte meine Stiefel mit seinem Napf verwechselt. Na, dann sind wir ja quitt«, winkte er ab und wurde wieder ernst – für seine Verhältnisse zumindest.
Hatte ich schon erwähnt, dass mein Bruder eigentlich immer lächelt, selbst wenn er todtraurig oder wütend oder nachdenklich oder sonst was ist? Sein Lächeln schwindet immer nur sehr kurz und auch nie vollkommen. Zumindest einer seiner Mundwinkel zeigt unentwegt himmelwärts.
»Aber: Nein«, sagte er schließlich. »Alles, was ich dir gerade erzählt habe, entspricht der Wahrheit. Finde dich damit ab und schweige dich darüber aus. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Wenn nicht dir – wem dann?«
»Du wolltest mir etwas Schönes erzählen!«, ermahnte ich ihn. Mein Magen zog sich bei der Erinnerung an sein angeblich krankes Herz und dieses schreckliche Vergehen – nein, Verbrechen! –, das er damals an seinem Körper begangen hatte, zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. Nur nicht daran denken, bloß schnell ablenken lassen, der Enttäuschung und dem Leid der Seele ja keine Gelegenheit bieten, noch deutlicher auf sich aufmerksam zu machen …
»Schnell!«, drängelte ich.
»Ich war heute bei Hommijr«, berichtete Sora. »Damit er an meinem Herzen horcht und mir ein wenig von dem Schellfischöl verabreicht, das mich angeblich kräftigt.«
»Und dann hat er bemerkt, dass er sich geirrt hat?«, riet ich aufgeregt. »Dass dein Herz vollkommen gesund ist und du gar keinen Mangel hast? Dass du nur ein bisschen mehr von dem Schellfischöl brauchst, damit du bald wieder völlig gesundest?«
»Nein«, antwortete Sora zu meiner Enttäuschung. »Aber als ich auf ihn gewartet habe, nachdem er im Heilmittelraum verschwunden war, habe ich mich mit Lammek unterhalten – mit seinem neuen Novizen. Wir verstehen uns sehr gut, weißt du? Er ist übrigens um ein paar Ecken mit Cochas Familie verwandt.«
»Etwas Schönes «, erinnerte ich ihn betont. Nun sollte er mir nicht auch noch etwas von Cocha erzählen. Ich war froh, dass ich ihn seit unserer Prügelei vor einigen Jahren kaum noch zu Gesicht bekam – später sollte ich erfahren, dass seine Mutter den Kontakt zwischen uns nach Möglichkeit unterband, weil sie befürchtete, Cocha könnte mir noch mehr von Walla erzählen; oder über unsere Körperkundigen, oder über das Elend der Primitiven …
»Mutter bekommt noch ein Kind«, sagte Sora.
»Was?« Mit einem Mal saß ich wieder kerzengerade – fast so gerade, wie ich gesessen hatte, als er von dem Glitzerwasser gesprochen hatte. Nur war es eine gänzlich gegensätzliche Gefühlswandlung, die meine Wirbelsäule nun streckte und mein Herz zum Rasen brachte. »Tatsächlich? Ein Baby? Warum hat sie uns noch nichts davon erzählt?«
Sora hob die Achseln. »Vermutlich wartet sie auf einen günstigen Augenblick«, spekulierte er.
»Aber das ist ja wunderbar!«, strahlte ich. Ich beugte mich vor und küsste abwechselnd Soras Wangen, seine Nase, seine Stirn und dann wieder seine Wangen. »Wir bekommen einen Bruder oder eine Schwester! Oh, Sora – ich freue mich so!«
Sora streichelte meinen Hinterkopf und drückte mich kurz an sich. »Ja«, flüsterte er. »Ich freue mich auch. Ich freue mich wirklich sehr.«
Und damit stand er auf, huschte aus meinem Zimmer und ließ mich ganz allein zurück mit all meinen wirren Gedanken, meiner Freude, meinem Elend und all den Fragen, die sich erst nach und nach hinter meiner Stirn zusammenfügten.
»Aber warum hattest du dann Angst, Bruder?«, flüsterte ich irritiert, als mein Herz wieder ein kleines bisschen ruhiger schlug. »Es ist doch nur ein kleines Kind, nur ein winziger Säugling … Wieso versteckst du dich in meinem Bett?«
In dieser Nacht sollte ich die Antwort auf diese Frage jedoch nicht mehr ergründen. Fast erschlagen vom Gewicht so vieler Neuigkeiten, schlief mein Verstand schon Stunden vor meinem Körper ein.
14
E in paar Wochen später erzählten uns unsere Eltern beim Frühstück selbst vom bevorstehenden Familienzuwachs. Wir taten sehr überrascht, und zumindest ich freute mich aufrichtig mit ihnen. Mein Vater war unendlich stolz – schließlich hatte nach so langer Zeit niemand
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