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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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einzigen Götterfisch. Es war ein wahrer Chor von gleichartigen und doch so verschiedenen Fischgesängen, die da aus den unendlichen Tiefen an die Oberfläche stiegen. Als hätte Ivi eine Kapelle bestellt, die Frohs Abtritt musikalisch untermalen sollte.
    Er grub seine Fingernägel so tief in das Holz des Bootes, dass ein paar davon einrissen oder abbrachen. Dabei hätte er eigentlich ganz ruhig sein müssen, wies er sich stumm zurecht. Die Entscheidung über das Schicksal seiner Seele war getroffen, und in wenigen Augenblicken würde er erfahren, wie sie ausgefallen war. Er hatte sein Bestes gegeben und hätte zuversichtlich sein sollen.
    »Natürlich ist es wichtig!«, widersprach Chita energisch. »Außerdem solltest du meine Sprache lernen. So oder so dürfte es nicht leicht werden, die übrigen Faronen davon zu überzeugen, dass ein Primitiver …«
    Fast hatte Froh erwartet, dass sie noch so lange quatschte, bis der Götterfisch sie mit Haut und Haar verschlang, oder sogar noch darüber hinaus. Aber als sie die üblen Dämpfe, die das Tier absonderte, schon riechen konnte, bemerkte sie es dann doch.
    »Bei Sirrah!«, keuchte sie und tat eine Drehung im Boot, um sich auf den Knien, Auge in Auge mit dem Ungetüm, an den Wänden festzuklammern, wie auch Froh es tat. Schon schwappte das Wasser in den Innenraum.
    »Hast du den Kranken wirklich geholfen?«, hakte Froh tonlos nach.
    »Selbstverständlich habe ich ihnen geholfen! Unentwegt habe ich Leute mit Nahrung und Kleidung zu ihnen geschickt, die …«, begann Chita und unterbrach sich dann mit einem heftigen Kopfschütteln. »Ach verdammt!«, fluchte sie am Rande der Hysterie.
    Spritzwasser rieselte auf sie hinab. Der Gestank des Götterfisches packte das Boot ein und ließ vermuten, dass er sich nicht, wie Chita behauptet hatte, von Plankton ernährte, sondern von Säcken voller verdorbenem Fisch, wie jenem, den die Fremde nicht an Bord hatte ziehen wollen. Ob er eigens im Meer getrieben war, damit sich die Götterfische daran laben konnten?, wunderte sich Froh. Und auch das Ding, das sie Wagen nannte, und das Glitzerwasser, und vielleicht sogar das tote Kind?
    Und wenn: Hatten die Götter selbst all diese Dinge ins Meer geschleudert, oder gab es Menschen, die wussten, dass sie Wagen voller Menschen und toten Fischen über die Klippen werfen mussten, um den Göttern zu gefallen? Und hatten sie den Götterfischen etwas genommen, das ihnen gehörte, und zahlten nun den Preis dafür? Oder war es immer noch wegen der Muschel …?
    »Warum fragst du das?«, schnappte Chita. »Warum tust du nichts? Tu etwas, Froh !«
    »Bitte geh«, sagte Froh leise an den Götterfisch gerichtet, aber der steuerte weiter schnurgerade auf das Boot zu, das sich jetzt gefährlich nach hinten neigte. Etwas weiter links tauchte nun eine zweite, unglaublich große Fluke auf. Diese Rückenflosse allein war so groß wie eine durchschnittliche Hütte.
    »Es nützt nichts«, erklärte Froh schulterzuckend. »Alles, was du tun konntest, hast du getan. Hoffe ich.«
    Und das tat er wirklich. Ganz gleich, wie kalt ihr weißes Herz war: Niemand hatte es verdient, dass man ihm ein immerwährendes Schicksal in Vulkas schrecklicher Höhle wünschte.
    »Er wird das Boot zerschmettern!«, prophezeite Chita schri ll. »Der Wal wird das Boot zertrümmern, Froh!«
    »Es ist kein Wal«, sagte Froh. »Es ist ein Götterfisch.«
    »Götterfisch! Was für ein Blödsinn!«, brüllte Chita, während das Monstrum ein letztes Mal hinter dem Boot abtauchte. Die Fluke schlug kraftvoll auf die Oberfläche, ein Platzregen aus Salzwasser ergoss sich über sie beide, und eine Welle türmte sich auf und schleuderte das Baumboot in die Höhe wie der Wind eine Feder.
    Chitas Finger verloren den Halt am nassen Holz und sie kippte hintenüber. Sie landete in Frohs Schoß, wälzte sich auf die Seite und klammerte sich an einen seiner Oberschenkel, wodurch seine geschundenen Finger nun fast das Doppelte seines Gewichts am Boot fixieren mussten.
    »Götterfisch, Wal, Götterfisch, Wal!«, stieß sie über das Getöse der aufgewühlten See hervor. »Was macht das schon für einen Unterschied? Wir werden sterben, Froh!«
    »Ein Götterfisch«, erklärte Froh und war selbst erstaunt, wie gelassen seine Stimme klang, »ist ein ganz besonders großer Wal.«
    Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da tauchte der ganz besonders große Wal ganz besonders schwungvoll wieder auf – und zwar ein gutes Stück hinter Frohs Rücken.

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