Das Mädchen aus dem Meer: Roman
plumpsen. »Cocha brachte mich in eine Höhle, die voller kranker Menschen war.«
»Und du hast ihnen geholfen?«, fragte Froh hoffnungsvoll.
»Selbstverständlich. Fortan verbrachte ich jeden freien Tag in dieser Höhle, um die Kranken und Verletzten zu pflegen. Denn einer von ihnen, der Mann ohne Bein, hatte mir etwas erzählt.«
»Oh.«
»Sein Name war Laris. Und er hatte sich mit seiner Schwester zerstritten, die in Jintam lebte und alles war, was er an Familie besaß. Weil er die letzte Nacht nicht mehr bei ihr verbringen wollte, schlurfte er am Hafen von Jintam herum, um die Zeit totzuschlagen, wobei er einen Wagen beobachtete, der einen Haufen Krü… Eine Menge kranker Menschen zu einem Mani brachte. Es waren auch Kinder und Säuglinge dabei.«
»Oh.«
»Laris dachte, er habe ja nichts mehr zu verlieren – warum also nicht einfach mit nach Walla gehen. Man sagt, es sei ein wunderbarer Ort, der keine Wünsche offen lässt. Eine Insel, auf der man sich um die Kranken und Schwachen und Verstümmelten und Alten kümmert, oder um Menschen, die es sich durch besondere Leistungen verdient haben, sich bis ans Ende ihrer Tage versorgen und bedienen zu lassen. Jedenfalls schlich sich Laris auf das Schiff. Er war ein blinder Passagier, aber die Reise war von erstaunlich kurzer Dauer: Nur eine Stunde später legte es an einem menschenleeren Strand an, mitten im Nichts. Es gab keinen Baum und keinen Strauch, nur Grasland und ein wenig stacheliges Gestrüpp. Und ein sehr großes, sehr tiefes Loch.«
»Oh.«
»Ein paar Krieger trieben die irritierten Passagiere vom Mani. Kaum hatte der letzte den Strand erreicht, eröffneten sie das Feuer aus ihren Armbrüsten. Sogar ein paar Kugelpuffer benutzten sie, um auf die Menschen zu schießen. Einige kippten gleich tot in die Grube, auf die anderen, die sich vor Furcht sogar in die Dornen schmissen, eröffneten sie unter Freudengeschrei eine regelrechte Hetzjagd, bis sie auch den letzten getötet hatten. Sie warfen die Leichen in die Grube und schmissen die Säuglinge hinterher, die sie bei lebendigem Leibe mit den Toten verscharrten. Und Laris verließ das Schiff und tauchte zum Ufer. Ein gutes Stück weg vom Mani natürlich, aber es nutzte nichts. Als er auftauchte, schaute er in die Mündung eines Kugelpuffers. Das ist ein Gerät, das eine Kugel mit so hoher Geschwindigkeit durch die Luft jagt, dass sie dir das Gehirn aus dem Kopf pustet. Und dazu musst du nur einen einzigen Hebel ziehen.«
»Oh«, sagte Froh zum vierten Mal. »Sag mal: Glaubst du, der Götterfisch nimmt uns beide überhaupt wahr?«
»Laris dachte natürlich, dass sie ihn nun ebenfalls töten und in das Massengrab werfen würden«, erzählte Chita weiter. »Aber er war jung und gesund. Bis auf die Sache mit den Zähnen. Er arbeitete in einer Zuckerei, weißt du. Und darum brachten sie ihn ins Ruhehaus nach Haimamika, wo man ihm ein Bein absägte, das man für einen Neffen irgendeines begnadeten Heerführers gebrauchen konnte. Bei vollem Bewusstsein. Sie haben ihn nicht einmal betäubt.«
»Also, ich glaube, er sieht uns nicht«, sagte Froh. »Wenn er uns sähe, müssten wir ihm wie kleine Fische erscheinen. Und wenn wir einen kleinen Fisch im Meer überfahren würden, würden wir es wahrscheinlich auch nicht merken.«
»Aber Laris konnte fliehen. Seine Freunde haben ihn gerettet. Und sie haben ihn nach Silberfels gebracht. In die Felsen. Es lebten erstaunlich viele Menschen darin«, erklärte Chita. »Nicht nur Kranke. Auch ein paar Kriminelle, die sich vor ihrer Strafe fürchteten. Und sehr, sehr viele gesunde Menschen. Menschen, wie … Menschen wie ich. Leute, die die Wahrheit über Walla und die Körperkundigen und all diese Dinge kannten und für eine bessere Welt kämpften. Und weißt du was?«
»Ich glaube, es ist gar nicht so wichtig, was ich weiß«, presste Froh, den Blick an den stetig auf- und abtauchenden Götterfisch geheftet, zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er war gigantisch, mindestens so lang wie acht oder neun Baumboote hintereinander und sicher um ein Vielfaches schwerer. Er versetzte das Meer in Aufruhr.
Obwohl noch mehrere Atemzüge vergehen würden, ehe das Unvermeidliche geschah, schaukelte und tanzte das Boot schon jetzt heftig in den Wellen, die sich um ihn herum auftürmten, und sobald es ihm gelang, an Chitas stetig plätschernder Stimme vorbeizuhören, nahm Froh auch schon den tiefen, dunklen Gesang des Meeres wahr.
Und der stammte nicht nur von einem
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