Das Mädchen aus dem Meer: Roman
allen Richtungen aus wie ein Haufen Wasser. Er hatte sich an den Wänden seines Baumboots festgehalten und die Füße gegen das Fass in der Mitte gestemmt, aber es hatte nichts genützt. Er hatte den harten Kampf um sein Gleichgewicht bald verloren und sich kraftlos ins Heck sinken lassen. Seine Augen waren zugefallen, als wären ihm ein paar sehr große Kieselsteine an die Wimpern geknotet worden, aber eingeschlafen war er trotzdem nicht gleich. Er hatte Chitas Stimme noch eine Weile gelauscht und sich über die Gleichgültigkeit geärgert, mit der sie ihm erzählt hatte, wie ihre Schwester gegen ein anderes Kind ausgetauscht worden war – ein gestohlenes oder ein gekauftes zudem. Er hatte gedacht, dass es eine wirklich spannende Geschichte hätte sein können (obwohl er vieles nach wie vor nicht verstand), wenn sie sie nur nicht so emotionslos vorgetragen hätte. Hätte der Medizinmann all diese Metaphern verwendet, soviel stand fest, dann hätte er sich immer wieder unterbrochen, um zu wehklagen und zu schreien. Er hätte große Gesten gemacht, den Sand getreten und wütend und enttäuscht über die Ungerechtigkeit, von der er allein, um andere zu warnen, hier und jetzt endlich erzählen musste, Dinge ins Feuer geschleudert. Aber Chita …
Sie hatte es einfach erzählt, als sei gar nichts dabei. Klar war ich ein bisschen sauer, aber meine Schwester war eben tot, und meine Eltern besorgten uns ja schnell ein neues Baby. Sie waren so weise. Ach ja: Und sie benannten es nach einer Insel, deren Bewohner wir jüngst samt und sonders niedergemetzelt hatten …
Froh hatte ein Monster geborgen. Selbst wenn sie alles, was sie ihm erzählte, völlig aus der Luft griff, wenn sie ihre Geschichte ganz und gar erfunden hatte, wusste er inzwischen, dass sie ein schlechter, herzloser Mensch war. Er schloss es allein schon aus der Art, auf die sie über die grausamsten Dinge sprach, ohne sichtlich etwas dabei zu empfinden. Außer vielleicht verletzten Stolz und ein bisschen Wut. Selbst wenn sie von Liebe sprach, hörte er immer nur ich, ich, ich … Sie erpresste, verfolgte und bedrohte Menschen, die sie angeblich liebte, und fühlte sich dabei nicht für die Dauer eines Herzschlags schlecht. Dabei bedeutete Liebe doch nichts anderes als du .
Du, Niedlich, bist das Wichtigste auf der ganzen Welt. Du sollst glücklich sein, und darum musste ich gehen …
Er schüttelte den Gedanken an Niedlich ab, ehe die Sehnsucht ihn in Zweifel stoßen konnte.
»Entschuldige. Er führte dich also durch einen Tunnel. Und dann?«, erkundigte er sich, während er sich mühselig aufsetzte. Ihm schwindelte, aber das musste nicht unbedingt am Glitzerwasser liegen. Die Sonne, so schien es ihm, hatte den Moment, in dem er vor sich hingedämmert hatte, ausgenutzt, um ihn noch erbarmungsloser zu rösten, als sie es ohnehin schon seit Tagen tat.
Chita leerte ihre Flasche, die sie während ihrer Erzählung mehrmals aus dem hölzernen Fass nachgefüllt hatte, in einem Zug und schleuderte den Behälter dann achtlos über Bord. Froh verkniff sich den Hinweis darauf, dass sich alles, womit sich Regenwasser einfangen ließ, möglicherweise schon bald als überlebenswichtig erweisen würde, denn eigentlich, so dachte er, wusste sie es selbst. So widersprüchlich und unberechenbar, wie sie sich in ihren Erzählungen gab, zeigte sie sich auch in dieser beiläufigen Geste wieder: Hatte sie noch vor wenigen Stunden wahllos alles an Bord geschaufelt, was sie hatte erwischen können, weil sie ganz genau wusste, dass ihnen all diese Dinge, so zwecklos sie auch im Augenblick erschienen, gewiss über kurz oder lang wie ein Segen erscheinen würden, so übergab sie sie jetzt an den Ozean, als schnippte sie bloß eine Muschel ins Wasser.
Eine Muschel …
Da unten auf dem Meeresgrund ruhten so viele Muscheln, und er geißelte sich vermutlich bis in den Tod, nur weil er eine einzige gestohlen hatte.
Nein, schalt er sich im Stillen. Es war nicht irgendeine Muschel gewesen. Es war eine besonders schöne Muschel, die ein besonderer Mensch auf einem besonderen Felsen abgelegt hatte, um einem besonderen Gott eine besondere Ehre zu erweisen. Was er getan hatte, war unverzeihlich gewesen. Und es hatte seinen kleinen Neffen das Leben gekostet.
»Jetzt muss ich alles noch mal von vorne erzählen«, klagte Chita. »Und wir haben überhaupt nichts mehr zu trinken.« Sie hievte auch das leere Fass über Bord. »Aber gut«, seufzte sie dann und ließ sich wieder auf ihren Platz
Weitere Kostenlose Bücher