Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Anders als befürchtet, war der Götterfisch nicht über sie hinweggedonnert, sondern unter ihnen hindurchgetaucht. Einen schrecklichen Moment noch tanzte das Boot auf dem Gipfel der meterhohen Welle und drehte sich schließlich im Kreis, um dann abrupt zu verharren und sich nach hinten zu neigen. Unverhofft sachte rodelte es den Berg aus Wasser hinab, und wahrscheinlich wären sie nicht einmal gekentert, hätte das Meer nicht mit einem zweiten Tier auf sie geschossen.
Plötzlich klebte das Boot an der Schnauze eines Götterfisches wie ein steifer, hölzerner Bart. Froh blickte in die schwarze Tiefe eines absurd kleinen Auges an der Seite des gigantischen, mit Muscheln, Schnecken und Algen gespickten Schädels, während der Götterfisch ihn und die Fremde (die sich inzwischen nicht mehr nur an seine Schenkel krallte, sondern auch in seinem Fleisch festbiss), in rasendem Tempo in den wolkenlosen Himmel hinauftrug. Und Froh glaubte zu verstehen, und nun wurde er auch innerlich ganz ruhig.
Der Götterfisch brachte ihn zu Ivi. Und die Fremde begleitete ihn in die Welt über den Wolken – ein blinder Passagier auf dem Weg ins Paradies …
Ja, sie würden sterben. Doch die Götter hatten seine Reue erkannt. Froh lächelte.
Der Wasserdruck bog seine Mundwinkel machtvoll zum Kinn hin, als er plötzlich kopfüber untertauchte.
Er hatte die Augen geschlossen und nicht wahrgenommen, wie sich seine Finger vom Bootsrand gelöst hatten und er kopfüber in die Tiefe gestürzt war. Chita hing noch immer an seinen Beinen, aber das Boot befand sich irgendwo in diesem Unwetter aus Wasser, Götterfischen, Plankton und Meeresgetier, das sie plötzlich einschloss wie eine saftige Frucht einen Kern. Allein die Richtung, in die sich neben seinen Mundwinkeln auch seine langen, mit Krokodilzähnen geschmückten Ohrläppchen bogen, ließ Froh erahnen, wo oben und unten war. Als er verstand, dass er untergetaucht war, befand er sich längst in einer Tiefe, vor der sich das Sonnenlicht fürchtete.
Hier, so registrierte er entsetzt, war alles grau. Und mit jedem Herzschlag wurde seine Umgebung noch ein bisschen grauer. Bald würde sie sich schwarz verfärben, und dann würden die Seelen der Verdammten vor ihm aufflammen und mit substanzlosen Fingern nach ihm greifen und …
»Nein!«, brüllte Froh entschieden, aber seine Stimme löste sich in all dem Wasser auf wie Kakaopulver in Milch. Der Druck auf seine Lungen verstärkte sich, sodass es sich anfühlte, als schlösse sich eine Riesenhand um seinen Brustkorb, die mit aller Gewalt zudrückte. Eine braune Wolke stieg unmittelbar vor seinem Gesicht auf, und er begriff, dass seine Nase blutete, und vielleicht auch seine Ohren, die erbärmlich schmerzten und sich zunehmend weigerten, die Gesänge der Götterfische in seinen Schädel passieren zu lassen.
Aber solange er blutete, lebte er, und solange er lebte, musste er kämpfen. Nicht für sich, sondern für Chita.
Er hatte sich geirrt, als er geglaubt hatte, dass der Wal ihn den Himmel hinauftragen würde. Nichts war entschieden – zumindest nicht für die Fremde. Auch sie sollte eine Chance bekommen, ihre Fehler zu erkennen und ihre Seele vor der ewigen Verdammnis zu bewahren. Das war seine Bestimmung. Es ging nicht nur um ihr blankes Leben, begriff er, sondern um viel, viel mehr. Die Prüfung, die die Götter ihm auferlegt hatten, die Aufgabe, die sie ihm anvertraut hatten, war um ein Vielfaches größer und wichtiger, als er angenommen hatte!
Ein weiterer Götterfisch schnellte durch das trübe Nass auf sie zu, das tempelgroße Maul bis zum Anschlag aufgerissen, und Froh war sicher, dass er nach ihnen beiden schnappen und sie einfach am Stück verschlingen würde. Aber der Wal verschluckte nur einen kleinen Fisch und schwebte dann gemächlich an ihnen vorbei.
Einen Fisch!, stellte Froh mit völlig unangemessenem Triumph fest. Der Wal hatte einen Fisch gefressen! Von wegen Plankton! Wenn Chita nicht absichtlich log, dann wusste sie nicht halb so viel, wie sie vorgab! Ein Grund mehr, um am Leben zu bleiben. Er musste ihr unbedingt noch sagen, dass Wale Fische fraßen!
Ein Schatten verdunkelte das Grau zu seiner Linken (war da links?), und Chita arbeitete sich an seinem rechten Bein zu seinem Oberkörper hinauf (oder hinab, und auch nur vielleicht rechts, er hätte es nicht beschworen), wodurch sie ihn noch weiter in die Tiefe drückte (oder in die Höhe zog). Der Schatten war größer als er, aber längst nicht so groß wie die
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