Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ihren Arm dem unsanften Griff. Schadenfrohes Johlen kam von den übrigen Bauern, während sich der Angesprochene rot vor Zorn abwandte. Nun näherten sich jedoch auch andere Männer, und nicht alle waren zu Scherzen aufgelegt. Einer von ihnen stürzte vor, zog die Greisin von ihrem Sitz hoch und fragte eindringlich: „Wenn du diese Kunst tatsächlich beherrschst, so sag mir die Wahrheit! Mein Vater ist todkrank, und ich weiß, dass jedes Hoffen vergeblich ist. Wird er den Winter noch erleben?“
Auf einen Schlag wurde es totenstill. Die Männer starrten die alte Frau abwartend an, man vernahm nur die heftigen Atemzüge des Fragenden. Reevas Blick flackerte nun auch zu Enva hinüber, jedoch ängstlich und schutzsuchend – und was sie sah, erschreckte sie zutiefst.
Das Auge der Greisin war geschlossen, das Lid über der leeren Augenhöhle zuckte heftig. Einige Herzschläge lang wirkte ihr Gesicht wie aus Stein gemeißelt; dann richtete sie den Blick wieder auf den Bauern, der vor ihr stand. Leise sagte sie: „Dein Vater wird entschlafen, noch bevor du die Ernte eingebracht hast. Ich habe ihn gesehen, und der Tod saß dicht neben ihm.“
Als die Alte die plötzliche Bewegung neben sich wahrnahm, zerbrach die steinerne Maske vor ihrem Gesicht; doch es war schon zu spät. Reeva war von blankem Entsetzen erfüllt aufgesprungen und zwischen den Bauern hindurchgeschlüpft, die sich nun alle mit Fragen auf den Lippen um Enva drängten. Kurz darauf war sie hinter den dicht zusammenstehenden Hütten verschwunden – der Ruf der Alten erreichte sie nicht mehr.
***
Reeva umschlang ihren Körper mit den Armen und presste den Rücken gegen die Hauswand.
Diese Person war nicht Enva, hallte es wieder und wieder durch ihr Inneres. Das steinerne Gesicht und die Stimme, die vom Tod erzählte, schienen nichts mit jener Frau zu tun zu haben, die etwas früher am Abend weinende Säuglinge getröstet hatte …
Reeva hob das Kinn, um ihre Tränen zurückzuhalten, und blickte dabei zufällig durch die Fensteröffnung der benachbarten Hütte. In der Stube beugte sich gerade ein Mädchen zur Feuerstelle hinunter, um Holz nachzulegen; danach richtete es sich zufrieden auf und strich sich das dunkle Haar zurück. Es musste nur wenige Sommer älter sein als Reeva selbst – und plötzlich durchflutete diese das sehnliche Verlangen, nicht vor der Hütte im Dreck zu kauern, sondern drinnen am Feuer zu sitzen; keine heimatlose Waise, sondern zumindest eine Bauerstochter zu sein und vor allem keine Gabe zu besitzen, vor der sie sich fürchtete.
„Fast alles, was fremd ist, bereitet Furcht“, hörte sie jemanden neben sich sagen, und als sie sich umwandte, war es wieder dieselbe alte Frau, die sie so gut kannte, mit derselben warmen, rauen Stimme.
„Enva“, murmelte Reeva und ließ sich von der Alten umarmen; doch sie nahm die schützende Geste nur wie von ferne wahr.
„Ich habe lange nach dir gesucht“, sagte Enva leise. Dann, wie es ihre Art war, meinte sie schlicht: „Lass uns morgen aufbrechen und weiterziehen.“
Doch so einfach ließ Reeva sich nicht besänftigen. Sie sah die Greisin an und wartete darauf, dass das gewohnte Gefühl des Vertrauens zu ihr zurückkehrte; endlich flüsterte sie: „Ich habe Angst. Was kann ich tun? Was kann ich tun, damit ich mich damit abfinde?“
Enva ließ sie wieder los. „Du musst es als das betrachten, was es ist. Genauso wie du dich selbst als die Person hinnehmen musst, die du bist, weil du es schließlich nicht ändern kannst. Wenn du dich weiterhin vor deinem Können verstecken willst, wirst du immer Angst haben. Sei nicht die Versteckte, die Verfolgte. Sei die Suchende, die Findende!“ Ihre runzlige Hand wies zu der kleinen Fensteröffnung hinauf. „Siehst du dieses junge Mädchen? Schau es an. Und jetzt horch in dich hinein, Reeva! Was weißt du über sie?“
„Ich weiß nichts!“, wollte Reeva ausrufen. „Woher denn auch? Ich kenne sie nicht!“ Doch stattdessen schwieg sie und starrte angestrengt auf die Gestalt in der dämmrigen Hütte, nur schwach erleuchtet vom flackernden Feuer. Der schlanke Schatten bewegte sich geschäftig hin und her, als vollführte er einen nächtlichen Tanz … begleitet von dem zuckenden Licht, das die Flammen an die Wände warfen, und von einem zweiten Schatten, der sich ebenfalls drehte und tanzte, tanzte … Er umfing das Mädchen, schwang es herum, hielt es dann fest und flüsterte etwas in sein Haar. Die junge Frau lachte, ehe sie
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