Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
lächelte sie ein wenig müde an und sagte freundlich: „Du musst keine Angst haben. Diesen Winter wird deine Familie keinen Hunger leiden, auch nicht dein neugeborener Sohn.“
Immer noch eingeschüchtert von dem unheimlichen Zauber, drehte sich die Frau um und hastete mit ihren Kindern davon. Als Reeva jedoch hinunterblickte, entdeckte sie ein besticktes Tuch, welches die Bäuerin zum Dank am staubigen Boden zurückgelassen hatte.
Noch mehr als darüber freute sich Reeva allerdings über das kleine Lächeln, das nun um Envas Lippen spielte.
***
Von nun an wagte es Reeva häufiger, für Hilfe suchende Menschen in die Zukunft zu blicken. Nicht immer konnte sie Bilder entdecken, wenn sie tief in sich hineinschaute – oft blieb das Bevorstehende verhüllt. Manchmal sah sie auch Dinge, die ihr Angst machten und sie verwirrten, sodass sie diese den Fragenden verschwieg; aber sie versuchte ständig dazuzulernen, genauso wie beim Heilen.
Ebendiese Fähigkeit sollte bald auf die Probe gestellt werden. Enva und Reeva waren schon eine Weile auf Wanderschaft gewesen und hatten bereits in vielen Dörfern Halt gemacht. Einmal aber, als sie gerade unter einem Baum am Rande eines Dörfchens Mittagsruhe hielten, näherte sich ihnen ein Junge, kaum älter als zehn. Er keuchte vom schnellen Laufen, und der Schweiß floss in dünnen Rinnsalen an seinen Schläfen hinab. Japsend rief er ihnen zu: „Ihr seid die beiden Kräuterweiber, nicht wahr, die Heilerinnen? Ihr müsst mir helfen, Mutter schickt mich! Sie kommt gerade nieder, aber es ist nicht so, wie es sein sollte – schon zu lange hat sie starke Schmerzen, doch das Kleine ist immer noch nicht da. Ich wohne im Nachbardorf, und keine der Frauen dort weiß Rat! Eine Hebamme gibt es nicht …“
Noch bevor er seinen Redeschwall beendet hatte, stand Enva auf und griff nach ihrem Bündel. Eilig holte sie einige Stoffbeutel heraus und befestigte diese an ihrem Gürtel. „Führe mich schnell zu deiner Mutter“, befahl sie, und an Reeva gewandt, die hilflos die Schultern hochzog: „Du bleibst inzwischen besser hier. Ich schaffe es schon alleine.“
Ehe das Mädchen irgendetwas sagen konnte, rannte der kleine Junge schon wieder los, und die Alte hastete hinterher. Reeva kam sich merkwürdig zurückgestoßen vor – Enva hatte sie nicht dabeihaben wollen, aber wieso? Glaubte sie, dass ihre Gehilfin einer solchen Aufgabe noch nicht gewachsen war?
Seufzend lehnte Reeva den Rücken wieder gegen den Baumstamm und schloss die Augen. Die Sonne schien rot durch ihre Lider und wärmte ihr Gesicht; es war so still, dass man irgendwo eine einsame Grille zirpen hören konnte.
Auf einmal wurde dieses zarte Geräusch jedoch von anderen, unruhigeren Lauten unterbrochen. Zuerst klang es wie ein weit entferntes Summen, aber nach und nach ließen sich einzelne Stimmen erkennen, die aufgebracht durcheinanderriefen. Reeva öffnete die Augen, als das warme Rot von schwarzen Schatten verdrängt wurde. Erschrocken schaute sie der Menschenmenge entgegen, die direkt auf sie zustürmte. Eine Sekunde später stand sie auch schon auf den Füßen, bereit zur Flucht.
Die erste Person hatte sie inzwischen erreicht. Es war eine der Bauersfrauen, an die Reeva vor ein paar Stunden ein Haarmittel verkauft hatte. Da hatte sie noch freundlich gelächelt und die beiden Heilerinnen großzügig mit frischgebackenen kleinen Kuchen entlohnt, doch nun war ihr Gesicht rot und verzerrt. Auch die anderen Leute, die keuchend vor Reeva Halt machten, schienen völlig außer sich. Die „Menschenmenge“ bestand in Wahrheit nur aus drei Frauen und zwei Männern, die aus irgendeinem Grund früher von der Arbeit zurückgekehrt waren, doch trotz der geringen Zahl wirkten sie auf Reeva bedrohlich.
„Ich habe nichts getan“, stammelte sie und drückte sich gegen den Baumstamm. Sie starrte auf den Mund der Bauersfrau, die irgendetwas rief, aber sie konnte nicht begreifen, was. Nun fielen auch noch die anderen mit ein und machten einen solchen Lärm, dass Reevas Hände zu ihren Ohren hochfuhren – doch dann hörte sie plötzlich einige Worte aus dem Geschrei heraus: „Verletzt … deine Hilfe … schnell!“ Da gab die Angst Reeva frei, die ihren Kopf mit Nebel gefüllt hatte. Das Mädchen ließ sich von den Leuten ins Dorf zerren und lauschte dabei den hastigen Erklärungen:
Einer der Waldarbeiter musste wohl vor ein paar Tagen von einem umstürzenden Baum getroffen worden sein, so viel konnte Reeva verstehen.
Weitere Kostenlose Bücher